Baustelle Wahlrecht: Karlsruhe überprüft schwarz-rote Reform

Von Anja Semmelroch, dpa

Karlsruhe (dpa) – Wie kann man den zu groß gewordenen Bundestag auf Normalmaß zurechtstutzen – fair und gerecht für alle Parteien? Darüber schwelt aktuell ein heftiger Streit, aber die Frage treibt die Politik seit Jahren um. 2020 gab es schon einmal eine Wahlrechtsreform, durchgesetzt von der schwarz-roten Koalition. FDP, Grüne und Linke, damals allesamt in der Opposition, hatten deswegen das Bundesverfassungsgericht eingeschaltet. Am Dienstag wird nun in Karlsruhe verhandelt – obwohl die Kläger von einst in Sachen Wahlrecht heute bei weitem nicht mehr an einem Strang ziehen.

Warum soll das Wahlrecht überhaupt reformiert werden?

Die Sollgröße des Bundestags beträgt laut Gesetz 598 Abgeordnete. Aber durch Überhang- und Ausgleichsmandate gibt es inzwischen deutlich mehr Parlamentarier. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach dem Zweitstimmen-Ergebnis Sitze zustehen. Das hat dazu geführt, dass im aktuellen Bundestag 736 Abgeordnete sitzen, so viele wie nie zuvor.

Weshalb gibt es Streit?

Je nachdem, an welcher Stellschraube man dreht, profitiert die eine Partei mehr als die andere. Und niemand will wegen der Reform an Macht und Einfluss verlieren. Deshalb ist es trotz einiger Anläufe nie gelungen, einen Kompromiss zu finden, den alle mittragen.

Wie ist der aktuelle Stand?

Die Ampel-Fraktionen von SPD, Grünen und FDP haben am 17. März eine Wahlrechtsänderung beschlossen, durch die der Bundestag dauerhaft auf 630 Abgeordnete schrumpfen soll. Vorgesehen ist, die Überhang- und Ausgleichsmandate ganz abzuschaffen. Außerdem soll die sogenannte Grundmandatsklausel entfallen. Sie sorgt bisher dafür, dass Parteien auch dann in der Stärke ihres Zweitstimmen-Ergebnisses in den Bundestag einziehen, wenn sie unter fünf Prozent liegen, aber mindestens drei Direktmandate gewinnen. Das würde sich vor allem für CSU und Linke nachteilig auswirken. Auch diese Reform wird deshalb mit ziemlicher Sicherheit in Karlsruhe landen. Noch ist das Gesetzgebungsverfahren aber nicht abgeschlossen.

Worum geht es jetzt in Karlsruhe?

Um die Wahlrechtsfassung, nach der 2021 der aktuelle Bundestag gewählt wurde. Die Änderungen, die CDU/CSU und SPD 2020 vorgenommen hatten, waren deutlich weniger weitgehend. Sie bestehen im Wesentlichen darin, dass erst ab dem vierten Überhangmandat ein Ausgleich stattfindet und dass Direktmandate auch auf Listenmandate derselben Partei in anderen Bundesländern angerechnet werden.

Warum ist das relevant, wenn schon die nächste Reform läuft?

Wegen der vielen Pannen am Wahltag soll die Bundestagswahl nach einem Beschluss des Bundestags in einigen Berliner Wahlbezirken wiederholt werden. Noch ist es nicht so weit, denn auch hierzu läuft ein Verfahren in Karlsruhe. Die Wiederholungswahl müsste aber nach denselben Regeln ablaufen wie die Hauptwahl. Nach Auffassung der Richterinnen und Richter besteht deshalb ein öffentliches Interesse daran, dass geklärt wird, ob diese Regeln verfassungsgemäß sind.

Was bedeutet das für die beteiligten Parteien?

Der zuständige Zweite Senat zieht das Verfahren jetzt durch – auch wenn FDP, Grüne und Linke es angesichts der neuen Reform lieber ad acta legen würden. Die 216 Abgeordneten, die einst gemeinsam ihren sogenannten Normenkontrollantrag einreichten, haben Mitte März erfolglos beantragt, das Ruhen des Verfahrens anzuordnen. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Gericht schon zur Verhandlung geladen.

Was ist inhaltlich zu erwarten?

Die Richterinnen und Richter haben sich Mitte 2021 schon einmal geäußert. Damals war zu entscheiden, ob das geänderte Recht bei der anstehenden Wahl angewandt werden durfte. In dieser Eilentscheidung klingen einige Bedenken an – so die Sorge, dass die Sitzverteilung inzwischen so kompliziert geworden sein könnte, dass sie für die Wähler überhaupt nicht mehr durchschaubar sei. Trotzdem gab es erst mal grünes Licht. Denn die Richter gingen davon aus, dass von den Änderungen nur relativ wenige Mandate betroffen sein dürften. In allen Einzelheiten werden die Vorschriften erst jetzt geprüft.

Welche Auswirkungen könnte das Urteil haben?

Im Normenkontrollverfahren entscheidet der Senat formal nur, ob eine Vorschrift verfassungsgemäß ist oder nicht. Was passieren würde, wenn es Beanstandungen gibt, lässt sich nicht ganz eindeutig vorhersagen. Eine Neuwahl wäre ein sehr unwahrscheinliches Extrem-Szenario. Zur Wahl 2021 sind auch noch Wahlprüfungsbeschwerden anhängig. Denkbar ist daher auch, dass dann in diesen Verfahren geprüft wird, wie schwer der Wahlfehler wiegt und welche Folgen das für den aktuellen Bundestag hätte. Das Urteil wird in den nächsten Monaten verkündet.

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