Eine Woche nach den Erdbeben: Tausende noch vermisst

Damaskus/Istanbul (dpa) – Genau eine Woche nach den katastrophalen Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet mit Zehntausenden Toten wird das Ausmaß immer deutlicher.

Auch wenn die Überlebenschancen mit jeder Stunde sinken, geben die Einsatzkräfte die Hoffnung nicht auf. Eine Frau in der Südosttürkei ist nach 170 Stunden unter Trümmern lebend geborgen worden. Die Retter holten die 40-Jährige am Morgen in Gaziantep aus der Ruine eines fünfstöckigen Hauses hervor, wie der Staatssender TRT berichtet.

Am frühen Montagmorgen vor einer Woche hatte das erste Beben der Stärke 7,7 um 2.17 Uhr MEZ die Region erschüttert, Stunden später folgte ein zweites schweres Beben der Stärke 7,6. Die Zahl der bestätigten Toten liegt inzwischen bei mehr als 35.000.

Tausende noch vermisst

Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO beträgt die Opferzahl in Syrien mindestens 5900. Das Epizentrum lag im Nachbarland Türkei. Dort starben den Behörden zufolge mindestens 30.000 Menschen. Der UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths rechnete gestern sogar mit bis zu 50.000 Toten. Tausende werden noch vermisst.

Auch Teams von mehreren Hilfsorganisationen aus Deutschland sind seit Tagen in dem Erdbebengebiet im Einsatz. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gestern in einem Telefonat die Lieferung von weiteren Zelten, Decken und Heizvorrichtungen zu. Über das sogenannte EU-Katastrophenschutzverfahren wurden der Türkei nach Angaben von gestern schon jetzt 38 Rettungsteams mit 1651 Helfern und 106 Suchhunden angeboten.

Zudem hätten zwölf EU-Staaten bereits 50.000 winterfeste Familienzelte, 100.000 Decken und 50 . Heizgeräte zur Verfügung gestellt. Hinzu kämen 500 Notunterkünfte, 8000 Betten und 2000 Zelte, die die Kommission mobilisiert habe.

Warnung vor Gewalt

Der Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde, Ali Ertan Toprak, warnte indes vor eskalierender Gewalt. «Es macht mir zunehmend Sorgen, dass die Menschen aufeinander losgehen», sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). «Viele Ortschaften haben bis heute keine Hilfe erhalten. Deshalb ist die Wut so groß.»

Die Menschen fragen sich auch, weshalb so viele Gebäude einstürzen konnten. Erste Haftbefehle wurden erlassen. Die Beschuldigten sollen für Baumängel verantwortlich sein, die den Einsturz der Gebäude begünstigt hätten, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu unter Berufung auf Strafverfolger. Experten kritisieren, dass Bauvorschriften für mehr Schutz vor Beben nicht umgesetzt werden.

«Die Türkei hat auf dem Papier eine der besten Baunormen der Welt. Wenn es um die Umsetzung geht, sind wir die Schlechtesten», sagte Städtebauexperte Orhan Sarialtun von der Ingenieur- und Architektenkammer der Deutschen Presse-Agentur. Die meisten beschädigten Gebäude in den betroffenen Provinzen wiesen dieselben Mängel auf: an Stahl- und Eisenstangen, Beton minderer Qualität sei verwendet worden und bei Bodenuntersuchungen habe es Fehlberechnungen gegeben, sagte Sarialtun. Die Opposition macht die Regierung für den Pfusch am Bau verantwortlich. In der Türkei ist Wahlkampf.

Kritik an Erdogan

Der türkische Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu warf Präsident Erdogan, der seit 20 Jahren an der Macht ist, gestern einmal mehr vor, das Land nicht auf solch ein Beben vorbereitet zu haben. Er kritisierte zudem, dass die Regierung im Jahr 2018 eine Bau-Amnestie erlassen habe, mit der illegal errichtete Gebäude gegen Strafzahlung im Nachhinein legalisiert worden seien. «Sie haben die Häuser, in denen die Menschen leben, zum Friedhof gemacht und dafür noch Geld genommen», sagte der Oppositionsführer.

Die Bundesregierung kündigte an, die Visa-Vergabe über ein unbürokratisches Verfahren zu vereinfachen, damit Betroffene zeitweilig bei Angehörigen in Deutschland unterkommen können. Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Baden-Württemberg, Gökay Sofuoglu, rief die Behörden im RND dazu auf, bei der Visa-Vergabe tatsächlich schnelle Entscheidungen zu treffen. «Es wird für alle ein Aufwand sein, aber in dieser schwierigen Lage sollten die Behörden sowohl in Deutschland, aber auch in der Türkei alles daran setzen, dass diese Menschen reisen können.»

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