Selenskyj wirft Russland Beschuss von Atomkraftwerk vor

Kiew (dpa) – Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat russischen Panzern den gezielten Beschuss des Atomkraftwerks Saporischschja vorgeworfen.

«Das ist Terror ungesehenen Ausmaßes», sagte er in einer Ansprache vom Freitag. Mit der Explosion des größten Atomkraftwerks von Europa hätte die Geschichte Europas enden können. «Bei den russischen Militärs ist die Erinnerung an Tschernobyl komplett weg», betonte der 44-Jährige. Russland wies das zurück und sprach von einer «Provokation des Kiewer Regimes».

In der Nacht zum Freitag war auf dem Gelände des Atomkraftwerks in der Stadt Enerhodar in der Südukraine in einem Übungsgebäude ein Feuer ausgebrochen. Der Brand konnte von über 40 eingesetzten Feuerwehrleuten gelöscht werden. Verletzte habe es nicht gegeben.

Erinnerungen an Tschernobyl

1986 war das damals sowjetische Atomkraftwerk Tschernobyl nördlich von Kiew havariert. Infolge der Explosion mussten Zehntausende das radioaktiv belastete Gebiet um die Atomruine verlassen. Das Sperrgebiet war in der vergangenen Woche von russischen Truppen erobert worden.

Parallel dazu rief Selenskyj die Bürger der südukrainischen Gebietshauptstadt Cherson dazu auf, mit ukrainischen Fahnen und der Hymne auf die Straßen zu gehen. «Chersoner, zeigt, dass das Eure Stadt ist», sagte das Staatsoberhaupt. Die Großstadt mit 280 000 Einwohnern steht seit etwa einem Tag unter Kontrolle russischer Truppen.

Keine erhöhte Strahlung gemessen

Nach Darstellung der ukrainischen Behörden gibt es keine erhöhte Strahlung. Es seien keine Veränderungen registriert worden, teilt die zuständige Aufsichtsbehörde bei Facebook mit. «Für die Sicherheit von Kernkraftwerken wichtige Systeme sind funktionsfähig.» In dem AKW sei aktuell nur der vierte Block in Betrieb. In einem Block liefen geplante Reparaturarbeiten, andere seien vom Netz genommen, hieß es.

Auch nach russischen Angaben ist keine erhöhte Strahlung gemessen worden. Russische Truppen hätten bereits seit dem vergangenen Montag die Kontrolle «über die Stadt Enerhodar, das Kernkraftwerk Saporischschja und das angrenzende Gebiet», teilt das Verteidigungsministerium in Moskau am Vormittag zudem mit. Das Personal in Europas größtem Atomkraftwerk arbeite normal weiter, sagte Ministeriumssprecher Igor Konaschenkow der Agentur Interfax zufolge.

Konaschenkow warf Kiew vor, mit den Berichten über den Brand eigene Interessen zu verfolgen: «Der Zweck der Provokation des Kiewer Regimes in der Nuklearanlage ist ein Versuch, Russland der Schaffung einer Brutstätte radioaktiver Kontamination zu beschuldigen», sagte Konaschenkow.

IAEA fordert Verhandlungen zur Atomsicherheit

Der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) will in Tschernobyl mit Russland und der Ukraine Sicherheitsgarantien für ukrainische Atomanlagen aushandeln. IAEA-Generaldirektor Rafael Grossi gab seinen Vorschlag bekannt, nachdem auf dem Gelände des ukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja im Zuge von Kampfhandlungen ein Feuer ausgebrochen war. «Für uns als IAEA ist es Zeit zu handeln. Wir müssen etwas tun.»

Der Bürgermeister des in der Nähe liegenden Ortes Enerhodar bezeichnet die Lage als «extrem angespannt». «Wir empfehlen, zu Hause zu bleiben», schrieb Dmytro Orlow am Morgen im Nachrichtenkanal Telegram. Auf den Straßen sei es aber ruhig, es seien keine Ortsfremden da. Damit meinte er offenbar russische Truppen. «In der Nacht blieb Enerhodar während des Beschusses wegen Schäden an einer Leitung ohne Heizung.» Nun werde nach Wegen gesucht, den Schaden zu beheben, schrieb er weiter. Am Morgen habe es keinen Beschuss mehr gegeben.

Keine unmittelbare Gefahr

Der Präsident des Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung, Wolfram König, sieht derzeit keine Gefährdung für Deutschland durch den Brand auf dem Gelände des ukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja. «Die aktuelle Situation zeigt, dass es keine erhöhte Radioaktivität gibt», sagt er im Radioprogramm des Bayerischen Rundfunks. «Wir müssen uns in Deutschland keine Sorgen machen hinsichtlich der jetzt bekanntgewordenen Situation in der Ukraine.» Selbst bei einem «ganz großen Unfall, der nicht ausgeschlossen werden kann oder eben hier durch den Beschuss einer derartigen Anlage entstehen könnte», ist nach Königs Worten «die Wahrscheinlichkeit, dass wir hier in einem größeren Maß betroffen sind, sehr, sehr gering.»

Auch die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) sieht keine unmittelbare Gefahr eines Atomunfalls. Zwar sei das Gelände laut der ukrainischen Aufsichtsbehörde von russischen Truppen umstellt oder besetzt, sagte GRS-Abteilungsleiter Sebastian Stransky der Deutschen Presse-Agentur. Die Betriebsmannschaften würden jedoch in ihrem regulären Betriebsmodus arbeiten.

«Zum jetzigen Zeitpunkt ist das Kraftwerk laut Aufsichtsbehörde in sicherem Zustand und wird entsprechend den Betriebsvorschriften durch die Betriebsmannschaft betrieben», sagte der Abteilungsleiter Internationale Projekte bei der GRS. «Wichtig ist, dass das Betriebspersonal in Ruhe arbeiten kann und regelmäßig im Schichtbetrieb ausgewechselt wird.» Das Trainingszentrum, in dem ein Brand gemeldet worden war, befinde sich auf dem Gelände des Standortes in größerer Entfernung zu den Reaktoranlagen. Außerdem sei in der Nacht auf Freitag auf ein Nebengebäude des Kraftwerkblockes 1 geschossen worden. Es habe einen Treffer abgekommen und sei beschädigt worden, so die GRS. Sicherheitsrelevante Teile seien aber nicht betroffen.

Von den sechs Blöcken der Anlage sei derzeit nur einer, Block 4, am Netz. Dessen Leistung sei wahrscheinlich aufgrund des derzeit geringeren Strombedarfs in der Ukraine etwas gedrosselt worden. Die übrigen abgeschalteten Blöcke befänden sich im Abschaltbetrieb. In diesem Zustand müssten die Brennelemente dauerhaft nachgekühlt werden. «Die Wärme wird abgeführt mit den ganz normalen, dafür vorgesehenen Systemen.» Alle sechs Blöcke befänden sich aus kerntechnischer Sicht in einem sicheren Zustand, betonte Stransky.

Einschätzung von Experten

Fachleute versuchen eine erste Lageeinschätzung nach dem Brand in einem Gebäude des ukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja zu geben. «Das echte Problem ist nicht eine katastrophale Explosion wie in Tschernobyl, sondern ein Schaden am Kühlungssystem. Das braucht man auch, wenn der Reaktor abgeschaltet ist. Es war diese Art von Schaden, der zum Unfall in Fukushima führte», sagte David Fletcher von der Universität Sydney.

Der australische Nuklearingenieur Tony Irwin hob allerdings Unterschiede der Anlage zu denen im japanischen Fukushima und im ukrainischen Tschernobyl hervor, wo es 2011 und 1986 schwere Atomunfälle gegeben hatte. Das Kraftwerk in Saporischschja habe – anders als das in Fukushima – einen separaten Wasserkreislauf für die Kühlung. Zudem gebe es spezielle Kühlungssysteme für den Notfall.

Zudem habe die jetzt betroffene Anlage – anders als die in Tschernobyl – eine besondere Schutzschicht, um eine Freisetzung von Radioaktivität zu verhindern. «Der Reaktor ist von einer massiven Schutzhülle aus Beton umgeben, die ihn vor Feuer zu schützt», sagte Irwin.

Maria Rost Rublee von der Monash Universität in Australien sagte: «Es gibt erhebliche Sorge, dass es zu einer Kernschmelze kommt, wenn irgendein Teil des Kerns betroffen ist. Das wäre eine Katastrophe.»

Gezielter Angriff wäre ein Kriegsverbrechen

Ein gezielter russischer Angriff auf ein ukrainisches Atomkraftwerk wäre nach Einschätzung des Völkerrechtlers Claus Kreß als Kriegsverbrechen einzuordnen. «Ein gezielter Angriff auf ein zivil genutztes Kernkraftwerk, ja, das wäre ein Kriegsverbrechen», sagte der Kölner Wissenschaftler am Freitag im Deutschlandfunk. Ein solcher Fall fiele in die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag. Kreß berät dort Chefankläger Karim Khan, der offizielle Ermittlungen zu Kriegsverbrechen in der von Russland angegriffenen Ukraine eingeleitet hat.

Umweltministerium: «Wir beobachten die Lage»

Nach einem Brand auf dem Gelände eines ukrainischen Atomkraftwerks informieren das Bundesumweltministerium (BMUV) und das Bundesamt für Strahlenschutz auf ihren jeweiligen Webseiten fortlaufend über die Gefährdungslage. «Nach russischem Beschuss in der Ukraine ist im Atomkraftwerk Saporischschja nach Informationen der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO; englisch International Atomic Energy Agency, IAEA) ein Feuer ausgebrochen. Das Ausmaß der Schäden ist bislang unklar», schrieb das Ministerium am Morgen. Das Feuer sei von den ukrainischen Einheiten des staatlichen Rettungsdienstes gelöscht worden, hieß es weiter. Alle radiologischen Messwerte an dem Kraftwerk bewegten sich «weiter im normalen Bereich».

Das BMUV und das Bundesamt für Strahlenschutz</a> erklärten, fortlaufend über relevante Entwicklungen zu informieren. Deutschland verfüge seit vielen Jahren über Instrumente zur Bewertung einer radiologischen Lage, beispielsweise das Integrierte Mess- und Informationssystem IMIS, hieß es dazu. «Sollte das BMUV Hinweise haben, dass sich ein radiologischer Notfall mit erheblichen Auswirkungen in der Ukraine ereignet, würde das radiologische Lagezentrum des Bundes im BMUV die Lage bewerten, die Öffentlichkeit informieren und, soweit erforderlich, Verhaltensempfehlungen geben»

Beide Behörden raten nach wie vor «dringend von einer selbstständigen Einnahme von Jodtabletten ab». Eine Selbstmedikation berge erhebliche gesundheitliche Risiken und habe aktuell «keinerlei Nutzen».

Bürger können sich sowohl auf der Webseite des Bundesamts für Strahlenschutz als auch auf der Webseite  jodblockade.de über die nukleare Sicherheitslage informieren.

 

 

 

 

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