Moskau wirbt Kämpfer, Kiew ringt um Verteidiger

Von Ulf Mauder und Andreas Stein, dpa

Moskau/Kiew (dpa) – Auf Moskaus Straßen gibt es kaum noch ein Entrinnen vor den Häschern des russischen Militärs. An Geschäften und Hausfassaden kleben Flugblätter, es gibt Informationsstände vor Metrostationen und Infomobile – alles Werbung für einen Einsatz im Kriegsgebiet in der Ukraine. «Unser Beruf ist es, die Heimat zu verteidigen», steht etwa auf einem vielfach verteilten und verklebten Poster mit Soldaten samt Telefonnummer 117, die zum Vertrag für einen freiwilligen Dienst an der Front führt. 400.000 Kämpfer will Russland so für seinen verlustreichen Krieg gewinnen.

Zwar muss nicht Russland sich verteidigen, sondern die von Moskau angegriffene Ukraine. Aber Moskaus Staatspropaganda hat den blutigen Überfall auf das Nachbarland, den Kremlchef Wladimir Putin vor rund 14 Monaten anordnete, längst umgedeutet in einen Krieg mit dem Westen. Bei vielen Russen verfängt die durch nichts belegte Erzählung Putins, der Westen mit den USA und ihrem Militärblock Nato an der Spitze ziele auf eine Zerstückelung des flächenmäßig größten Landes ab, um an seine Rohstoffe zu kommen. Die Ukraine ist demnach nur ein Schlachtfeld, auf dem dieser Kampf derzeit ausgetragen wird.

Noch im September musste der Staatsapparat viele Reservisten mithilfe einer chaotischen und vielfach kritisierten Mobilmachung zum Dienst an der Front oft regelrecht prügeln. Nun lockt er mit vergleichsweise lukrativem Sold, der um ein Vielfaches über dem Durchschnittseinkommen liegt. Um das Anwerben von Freiwilligen ist zudem ein Konkurrenzkampf zwischen der Privatarmee Wagner und dem Verteidigungsministerium entbrannt.

Gesellschaftlicher Druck auf Russen für Kriegseinsatz

Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin hat Dutzende Anwerbepunkte im Land eingerichtet. Erfahrung ist nicht nötig. Und er bietet einen höheren Grundsold als das Verteidigungsministerium von 240.000 Rubel (rund 2700 Euro) monatlich. Der Vertraute von Putin verspricht Erfolgsprämien, moderne Kampfuniformen, die beste Ausrüstung und Bewaffnung sowie eine Kranken- und Lebensversicherung und eine Vorbereitung durch hoch qualifizierte Ausbilder.

Inzwischen sehen sich russische Männer zunehmend gedrängt zum «freiwilligen Kriegsdienst». Das Staatsfernsehen präsentiert etwa in langen Reportagen das «Zentrum für die Auswahl von Bürgern für den freiwilligen Militärdienst» in der Jablotschkowa-Straße 5 in Moskau. Der Andrang scheint groß. Männer füllen dort reihenweise Formulare aus – und lassen sich medizinisch durchchecken. Es gebe sehr viele Interessenten, erzählt der Freiwillige Georgi Petrow.

Frauen und Männer sprechen in die Kamera, dass sie die Heimat verteidigen wollen – im Schützengraben oder etwa auch im medizinischen Dienst. Wer keine Arbeit hat – viele Menschen haben wegen der Sanktionen und Firmenschließungen keinen Job mehr -, kann sich auf das gut bezahlte, aber lebensgefährliche Kriegsabenteuer einlassen. Kritiker sprechen von Russisch Roulette. Aber in den sozialen Netzwerken sagen viele, dass ihnen die Aussicht auf etwas Vermögen und das damit verbundene Risiko mehr wert seien, als ein Leben im Nichts.

Putin hat vorgesorgt für ein Scheitern der Werbekampagne

Mit einem Video im Stil eines Actionfilms zieht nun noch das Verteidigungsministerium über einzelne Berufe her und fragt, ob die Männer dort am richtigen Platz seien. Zu sehen sind ein Wachmann in einem Supermarkt, ein Trainer im Fitnessstudio und ein Taxifahrer, die sich mittels Spezialeffekten in Soldaten in Uniform verwandeln. Die Botschaft: «Du bist doch ein Mann!» Offen werden die Männer zum Fronteinsatz aufgerufen. Doch die Versprechungen von Glück in dem Video stehen im Widerspruch zu anderen Clips, in denen Soldaten immer wieder schlechte Ausrüstung, miese Führung und Behandlung beklagen.

Unklar ist bislang, wie gut diese PR-Offensive zieht. Aber Putin hat vorgesorgt. Er unterzeichnete im April ein Gesetz, das den zwangsweisen Einzug von Reservisten deutlich vereinfacht – anders als bei der Mobilmachung von 300.000 Männern im Herbst. Das Gesetz soll auch eine neue Massenflucht von Hunderttausenden Wehrpflichtigen verhindern, weil mit Zustellung des Einberufungsbescheids die Ausreise unmöglich wird.

Kiew will 80.000 Soldaten für Offensive

Die Ukraine dürfen Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren schon seit Kriegsbeginn nicht mehr verlassen – oder nur in Ausnahmefällen. Rund 700.000 Ukrainer sollen bisher bei Armee, Nationalgarde, Grenztruppen und Polizei unter Waffen stehen. Angesichts täglicher Verluste im dreistelligen Bereich brauchen die bewaffneten Kräfte ständig Nachschub. Doch auch ein Sold für Frontsoldaten von umgerechnet 3000 Euro im Monat kann angesichts der blutigen Kriegsrealität nur noch einen Teil der Ukrainer motivieren.

Für die im Mai erwartete Frühjahrsoffensive sollen Medienberichten zufolge zwölf Brigaden von zusätzlich bis zu 80.000 Soldaten vorbereitet werden. Zwar versicherte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im Februar erneut, dass Kiew «die Menschen nicht mit Knüppeln in den Krieg jagen» werde. Videos in sozialen Netzwerken etwa aus den Großstädten zeigen hingegen bisweilen ein anderes Bild.

Seit Wochen kursieren Clips, wie vor allem Männer im mittleren Alter von Militärvertretern auf der Straße angehalten, teils unter heftigem Widerstand in Autos gesteckt und davongefahren werden.

Für Aufsehen sorgte der Fall des 33-jährigen Bohdan Pokitko aus dem westukrainischen Ternopil. Ende Januar von der Straße ins Kreiswehrersatzamt gebracht, wurde er am 12. Februar ins Gebiet Donezk verlegt. Vier Tage später war er tot. Die einzige Ausbildung, die er erhalten haben soll, sei das Auseinandernehmen einer Kalaschnikow gewesen, berichteten Medien.

Auch der bei Bachmut kämpfende Soldat Mychajlo Tschoknadij bestätigte im April, seiner Einheit seien völlig unausgebildete Rekruten als Ersatz geschickt worden. «Sie haben noch nie im Leben geschossen und überhaupt keine Ausbildung durchlaufen», sagte er. Nach fünf Tagen Feldlager seien die frisch Mobilisierten sofort an die Front geworfen worden und dabei nicht einmal in der Lage gewesen, die Magazine ihrer Sturmgewehre zu laden. Die Militärführung hingegen betonte, dass kein Soldat ohne das Durchlaufen der Grundausbildung an die Front gelange.

Kiew kämpft gegen Fahnenflucht

Wie viele Russen versuchen auch ukrainische Männer, sich zu Tausenden dem Militärdienst zu entziehen. In Telegramgruppen mit Zehntausenden Teilnehmern warnen sie sich vor Militärpolizisten. Wer Musterungsbescheide ignoriert, riskiert jahrelange Gefängnisstrafen. Diejenigen, die es sich leisten können, versuchen sich mit gefälschten ärztlichen Attesten oder gleich direkt beim Kreiswehrersatzamt gegen Bestechung freizukaufen.

Und immer wieder gibt es Fluchtversuche. Beinahe täglich zeigt der Grenzschutz Bilder von gefassten Flüchtlingen an den Westgrenzen. Gestellt werden Männer in Frauenkleidern, Männer, die sich mit gefälschten Geburtsurkunden für kinderreich ausgeben, Männer, eingewickelt in Teppiche oder versteckt in Kofferräumen.

Für Fluchthelfer ist das ein einträgliches Geschäft. Der Schaffner des täglichen Zuges aus dem südostukrainischen Saporischschja ins polnische Przemysl soll über mehrere Monate für umgerechnet jeweils mehr als 2000 Euro wehrpflichtige Männer in einem speziell hergerichteten Lüftungsschacht außer Landes gebracht haben. Ihm drohen nun zehn Jahre Haft.

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Erdogan verzichtet nach Erkrankung auf Wahlkampfauftritt

Istanbul (dpa ) – Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan führt seinen Wahlkampf nach einer Erkrankung nur eingeschränkt fort. Der 69-Jährige verzichtete am Freitag auf einen persönlichen Auftritt bei der Einweihung einer Brücke im südtürkischen Adana, wie aus seinem Programm hervorging. Er sollte sich aber per Video aus seinem Büro zuschalten. Erdogan wirbt bei Einweihungen und Eröffnungen in der Regel für seine Wiederwahl am 14. Mai.

Der 69-jährige war am Dienstagabend, gut zwei Wochen vor den Parlaments- und Präsidentenwahlen, erkrankt. Er musste zunächst ein Fernsehinterview wegen Magenproblemen unterbrechen, anschließend legte er eine Wahlkampfpause ein. Weiterlesen

US-Datenleck: Verdächtiger wohl weiter sehr gefährlich

Washington (dpa) – Im Verfahren um das kürzlich aufgedeckte Datenleck von Dokumenten der US-Geheimdienste fordert die Anklage, den festgenommenen IT-Spezialisten des Militärs im Gefängnis zu belassen. Es bestehe große Fluchtgefahr, argumentieren die Staatsanwälte in einem Schreiben, das vor einem für diesen Donnerstag geplanten Haftprüfungstermin bei Gericht eingereicht wurde. Dem 21-jährigen Jack Teixeira drohen demnach bei einer Verurteilung mindestens 25 Jahre Gefängnis.

Er sei weiter ein große Gefahr für die nationale Sicherheit. «Er hat möglicherweise noch immer Zugang zu einer Fülle geheimer Informationen, die für feindliche Staaten von enormem Wert wären», heißt es in dem 18-seitigen Schreiben. «Diese könnten ihm einen sicheren Unterschlupf bieten und versuchen, seine Flucht aus den USA zu erleichtern.» Die Informationen, zu denen Teixeira Zugang hatte, gingen demnach weit über das hinaus, was bislang bekannt sei: «Der Schaden, den der Angeklagte noch anrichten kann, ist außerordentlich.» Weiterlesen

Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage

Kiew (dpa) – Das Telefonat des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj mit Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping ist international als positives Zeichen gewertet worden. Lob für Selenskyjs Gespräch mit Xi, der eher als Vertrauter von Kremlchef Wladimir Putin bekannt ist, kam etwa aus Berlin und Washington. Auch der ukrainische Staatschef selbst sprach später von einem «langen und ziemlich vernünftigen Gespräch».

Selenskyj: Können Chinas politischen Einfluss nutzen

«Nun besteht die Möglichkeit, unseren ukrainisch-chinesischen Beziehungen neue Impulse zu verleihen», sagte Selenskyj in seiner abendlichen Videoansprache. «Es besteht die Möglichkeit, Chinas politischen Einfluss zu nutzen, um die Prinzipien und Regeln, auf denen Frieden basieren sollte, wieder zu stärken.»

China sei – ebenso wie die Ukraine und die Mehrheit der Weltgemeinschaft – an der Stärke souveräner Nationen, deren territorialer Integrität sowie der Vermeidung atomarer Katastrophen interessiert, fügte Selenskyj hinzu. «Wir haben vereinbart, unsere Kommunikation fortzusetzen.»

Xi und Selenskyj hatten das erste Mal seit Beginn des russischen Einmarsches in die Ukraine miteinander telefoniert. Mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin hatte Xi hingegen seitdem mehrfach gesprochen. Kritiker werfen China vor, in dem Konflikt nicht neutral zu sein – auch, weil das Land die russische Invasion bis heute nicht verurteilt hat. Weiterlesen

Chinas Staats- und Parteichef Xi spricht mit Selenskyj

Peking (dpa) – Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping hat ein Telefongespräch mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj geführt. Das teilte Selenskyj in Kiew mit. Auch chinesische Staatsmedien meldeten das am Mittwoch. Es ist das erste persönliche Gespräch, das Xi Jinping seit der russischen Invasion in die Ukraine vor mehr als einem Jahr mit Selenskyj geführt hat. In dem Konflikt gibt China dem russischen Präsidenten Wladimir Putin Rückendeckung, was Peking viel internationale Kritik einbringt. Weiterlesen

Moskau: Belarussen lernen an taktischen Atomwaffen

Moskau (dpa) – Die russischen Streitkräfte haben nach eigenen Angaben Soldaten aus dem Nachbarland Belarus vor der dort geplanten Stationierung taktischer Atomwaffen an den Raketen ausgebildet. Sie hätten gute Ergebnisse gezeigt, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau am Mittwoch mit. Das Ministerium veröffentlichte auch ein Video, das das Training auf einem russischen Truppenübungsplatz im Süden des Landes zeigen soll. Zu sehen war demnach der Raketenkomplex vom Typ Iskander-M. Die Raketen können mit konventionellen, aber auch mit Atomsprengköpfen bestückt werden. Weiterlesen

Nawalnys Einzelhaft verlängert – Neuer Prozess ohne Presse

Melechowo (dpa) – Kremlkritiker Alexej Nawalny ist nach dem Ende seiner 15-tägigen Isolationshaft sofort erneut in eine Einzelzelle verlegt worden. Für ihn sei das sogar zu Sowjetzeiten geltende eiserne Gefängnisprinzip gebrochen worden, einem Häftling nach 15 Tagen Einzelarrest zumindest einen Tag Erholung zu gönnen, teilten Nawalnys Vertraute auf seinem Telegram-Kanal mit. Zugleich wurde bekannt, dass die erste Sitzung für einen neuen Strafprozess gegen den 46-Jährigen am Mittwoch in Moskau unter Ausschluss der Öffentlichkeit läuft. Weiterlesen

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