Moskaus Truppen durch US-Waffen unter Druck

Kiew/Berlin/Moskau (dpa) – Aus vollen Rohren feuern die ukrainischen Soldaten schon seit Tagen mit den Mehrfachraketenwerfern vom Typ Himars, die sie aus den USA bekommen haben. In den Gebieten im Osten und im Süden ihres Landes, die jetzt unter russischer Kontrolle sind, sprengen sie Waffen- und Munitionsdepots sowie Treibstofflager in die Luft. Auf Videos zeigen sie stolz, wie Ziele in den Gebieten Luhansk, Donezk und Cherson in Flammen aufgehen. Bilder, die nach bald fünf Monaten Krieg trotz massiver Verluste in den eigenen Reihen die Kampfmoral heben sollen.

Auch Präsident Wolodymyr Selenskyj lobt die vom Westen gelieferten schweren Waffen als effektiv. Und er fordert mehr davon – und auch Raketen mit höherer Reichweite: statt 70 bis zu 300 Kilometer. Selenskyj kündigt immer wieder eine Offensive an, um verlorene Gebiete zurückzuholen und den russischen Vormarsch zu stoppen. Aber ungeachtet der punktuell erfolgreichen Schläge gegen die Logistik, die als Schwachpunkt der russischen Streitkräfte gilt, sehen selbst ukrainische Experten keinen Durchbruch.

Die Zerstörung von Munitions- und Treibstoffdepots in der Nähe der Front wirkt nach Einschätzung des ukrainischen Militäranalysten Oleh Schdanow vor allem kurzfristig. «Das senkt die Kampfaktivität der russischen Einheiten sehr drastisch», sagt er im ukrainischen Fernsehen. «Das macht uns die Verteidigung leichter. Und wir erhalten die Möglichkeit, an einzelnen Abschnitten zu Gegenangriffen überzugehen. Wie sehr auch Russland sich abmüht: Wir zwingen ihnen den Charakter der Kriegsführung auf.»

Kein schneller russischer Durchmarsch im Donbass

Damit sei der russische Plan der «Schlacht um den Donbass» torpediert worden, meint Schdanow. Statt eines schnellen Durchmarsches mit einer Einkesselung der ukrainischen Truppen schafften sie nur wenige Kilometer – mit großen Verlusten. Der Beschuss durch russische Artillerie sei weniger geworden. Schdanow meint, dass Russlands Luftabwehr gegen die Himars-Raketen keine Chance habe. Die Angreifer verwenden Raketen sowjetischer Bauart, die auch wegen fehlender moderner Navigationssysteme ihre Ziele immer wieder verfehlen.

Auch kremlkritische russische Medien berichten, dass Moskau kaum Zeit gehabt habe, die jüngste Eroberung des Gebiets Luhansk zu feiern. Russland habe zwar einen Vorteil durch seine Artillerie und Munitionsvorräte. Aber das US-System Himars mit seinen durch GPS punktgenau platzierten Raketen versetze den russischen Einheiten empfindliche Schläge, heißt es in einer Analyse des Portals Meduza.

Russland müsse nun die Versorgung seiner Truppen im Donbass und in der Region Charkiw im Osten sowie in den Gebieten Saporischschja und Cherson im Süden mit Waffen, Munition und Treibstoff neu ausrichten. Es sei nicht klar, ob dies ohne eine größere Mobilmachung gelinge. Inzwischen gibt es immer mehr Initiativen russischer Provinzbehörden, Freiwillige für den Krieg zu gewinnen.

Das Himars-System bedrohe die Sicherheit der «Volksrepublik Luhansk», räumte in dieser Woche auch Leonid Passetschnik ein. Er ist der Chef der von Russland als Staat anerkannten Region. «Zum Glück haben sie nicht viele solcher Waffen. Deshalb gibt es überhaupt gar keinen Grund zur Panik.»

Kiew hofft auf weitere Waffen aus dem Westen

Doch die Ukraine hofft auf noch mehr solcher und anderer Waffen vom Westen. Auch die Panzerhaubitze 2000 ist inzwischen an der Front. Deutschland hat bisher sieben Stück der Artilleriewaffe geliefert, die Niederlande fünf – und gemeinsam wollen beiden Staaten die Zahl auf insgesamt 18 Haubitzen erhöhen, genug für ein komplettes ukrainisches Artilleriebataillon. Die dafür in Deutschland ausgebildeten Soldaten seien jetzt im Einsatz, wird der Deutschen Presse-Agentur erklärt.

Zeitgleich und ohne Öffentlichkeit läuft in Deutschland das Training von Ukrainern am Raketenwerfer Mars II, dem nächsten Waffensystem, das aus Deutschland bereitgestellt werden soll. Die Kriegstechnik soll es den Ukrainern ermöglichen, auch auf größere Entfernungen genau zu treffen und der grundsätzlichen russischen Überlegenheit etwas entgegenzusetzen. Ob sich mit dem Einsatz der westlichen Waffen auch russische Truppen zurückdrängen lassen, wird sich erst noch zeigen.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat weitere Waffenlieferungen in die Ukraine als Teil des sogenannten Ringtauschs für die kommenden Wochen angekündigt. Die Bundesregierung habe Vereinbarungen mit mehreren Ländern «soweit konkretisiert, dass sie unmittelbar mit Auslieferung verbunden sein werden», sagte der SPD-Politiker im Bundestag.

Lambrecht bei Lieferung aus Bundeswehr-Beständen zurückhaltend

Dagegen ist Berlin zögerlich, weitere Waffensysteme aus Beständen der Bundeswehr zu übergeben. So hat Verteidigungsministerin Christine Lambrecht einer Lieferung von Transportpanzern des Typs Fuchs eine Absage erteilt – wegen der Verteidigungsfähigkeit Deutschlands. Es sei «unverantwortlich, die Bundeswehr gerade in diesen Zeiten ausplündern zu wollen».

Dabei könnte die Störung der russischen Logistik nach Einschätzung von Militärexperten zwar die Voraussetzung schaffen für eine ukrainische Gegenoffensive. Aber im Moment liegt die Initiative weiter bei den russischen Truppen, die sich langsam im Donezker Gebiet vorarbeiten – nun an der Linie zwischen den Städten Siwersk, Soledar und Bachmut.

Auch die Hoffnungen auf eine baldige Rückeroberung von Cherson und des Südens, der in den ersten Kriegstagen verloren ging, sind gering. Die ständigen Berichte Kiews über angeblich laufende Offensiven wurden selbst dem für Gegenpropaganda geschaffenen staatlichen Zentrum für strategische Kommunikation und Informationssicherheit zu viel. Tatsächlich gebe es nur drei befreite Dörfer: Tawrijske, 30 Kilometer westlich von Cherson, und Potjomkyne sowie Iwaniwka, mehr als 100 Kilometer nordöstlich der Gebietshauptstadt. Der Regierungsbezirk hat insgesamt mehr als 650 Siedlungen.

Von Andreas Stein, Carsten Hoffmann und Ulf Mauder, dpa

 

 

Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage

Kiew/Moskau/Elmau (dpa) – Erstmals seit drei Wochen ist die ukrainische Hauptstadt Kiew von der russischen Armee wieder mit Raketen beschossen worden.

Nach massiven Raketenangriffen in vielen anderen Regionen gab es am Morgen auch in der Millionenmetropole mehrere Explosionen. Getroffen wurden auch ein neunstöckiges Wohnhaus und das Gelände eines Kindergartens. Die Behörden meldeten mindestens einen Toten sowie Verletzte. Zuvor war es Russland nach wochenlangem Kampf schon gelungen, die Großstadt Sjewjerodonezk im Osten der Ukraine unter Kontrolle zu bringen.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach nach vier Monaten Krieg in einer Videobotschaft von einer moralisch und emotional schwierigen Phase. Vom Westen forderte er zum Auftakt des G7-Gipfels in Bayern abermals mehr Militärhilfe. Weiterlesen

Krieg in der Ukraine: So ist die Lage

Kiew (dpa) – Die Ukraine hat von ihren ausländischen Partnern erneut moderne Raketenabwehrwaffen angefordert, um russische Angriffe aus der Distanz zurückschlagen zu können.

Präsident Wolodymyr Selenskyj kündigte noch für diese Woche wichtige Gespräche über die Beschaffung solcher Systeme an. Er sagte nicht, mit wem er sprechen werde – es seien aber nicht nur europäische Politiker. «Wir wiederholen gegenüber unseren Partnern, dass die Ukraine moderne Raketenabwehrwaffen benötigt», sagte er.

In der Ostukraine dauerten die erbitterten Kämpfe um die Großstadt Sjewjerodonezk an. Russland kündigte für Mittwoch die Schaffung eines humanitären Korridors an. Durch diesen sollen sich Zivilisten in Sicherheit bringen können, die im örtlichen Chemiewerk Azot Zuflucht gesucht haben. In den Kellern unter dem Werk werden dem Verteidigungsministerium in Moskau zufolge 540 bis 560 Zivilisten vermutet.

Schutz vor Raketenangriffen

Selenskyj verwies darauf, dass die Ukraine bei russischen Angriffen am Dienstag zwar einige Raketen habe abschießen können, aber nicht alle. Die Ziele des Beschusses lagen in den westukrainischen Gebieten Lwiw und Ternopil. Nach Angaben örtlicher Behörden wurden sechs Menschen verletzt. Die Trümmer einer abgeschossenen Rakete trafen demnach eine Ziegelei in Solotschiw im Gebiet Lwiw.

Die Ukraine habe schon vor der russischen Invasion vom 24. Februar um moderne Raketenabwehr gebeten, sagte der Präsident am Dienstagabend in Kiew. Ein Aufschub sei nicht zu rechtfertigen. Die Ukraine habe derzeit «den größten Bedarf an solchen Waffen in Europa».

Die russische Armee feuert seit Beginn des Krieges immer wieder aus sicherer Distanz von Land, aus der Luft oder vom Meer aus Raketen und Marschflugkörper auf Ziele in der Ukraine ab.

Ein Krankenhaus in der Region Donezk wurde durch militärischen Beschuss zerstört. Foto: Uncredited/AP/dpa

Getroffen werden nicht nur militärische Ziele, sondern auch viele teils zivile Gebäude in den großen Städten. Luftalarm zwingt die Bewohnerinnen und Bewohner immer wieder in Schutzräume.

Die Forderung der Ukraine nach einem gewaltsam durchgesetzten Flugverbot an Himmel über dem Land haben ihre ausländischen Unterstützer abgelehnt. Sie wollten nicht in eine direkte militärische Konfrontation mit Russland hineingezogen werden.

Vizeministerin: Ukraine hat nur ein Zehntel an Waffen bekommen

Um Waffenlieferungen dürfte es auch gehen, wenn Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der italienische Regierungschef Mario Draghi Kiew besuchen. Die Reise wird erwartet, allerdings ist offiziell noch kein Termin mitgeteilt.

Die Ukraine hat nach Angaben ihrer Militärführung aus dem Ausland bislang nur ein Zehntel der notwendigen Waffenhilfe bekommen. «Von dem, was die Ukraine gesagt hat, dass sie es braucht, haben wir bis heute etwa zehn Prozent», sagte Vizeverteidigungsministerin Hanna Maljar im ukrainischen Fernsehen. Russland sei an Rüstung und Zahl der Soldaten unendlich überlegen. «Egal wie die Ukraine sich anstrengt, egal wie professionell unsere Armee ist, ohne Hilfe von Partnern werden wir diesen Krieg nicht gewinnen können.»

Fluchtkorridor aus einem umkämpften Chemiewerk

Der Fluchtweg für Zivilisten aus dem Chemiewerk Azot in Sjewjerodonezk soll nach Moskauer Angaben am Mittwoch von 7.00 bis 19.00 Uhr MESZ (Ortszeit: 8.00 bis 20.00 Uhr) offen sein. Er führe in nördlicher Richtung in die Stadt Swatowe (Swatowo), sagte der General Michail Misinzew vom russischen Verteidigungsministerium.

Swatowe liegt in der von prorussischen Separatisten kontrollierten und von Russland als Staat anerkannten Volksrepublik Luhansk. Moskau lehnte den ukrainischen Vorschlag ab, die Menschen auf von Kiew kontrolliertes Gebiet fliehen zu lassen. Die Ukraine wolle nur ihre Bewaffneten aus Sjewjerodonezk herausschleusen wie zuletzt beim Stahlwerk Azovstal in der Hafenstadt Mariupol, sagte Misinzew. Er forderte die ukrainischen Soldaten auf, sich zu ergeben.

Selenskyj rief dagegen angesichts der verlustreichen Abwehrschlacht im Osten seine Truppen zum Durchhalten auf. «Das ist unser Staat. Dort im Donbass durchzuhalten ist lebenswichtig», sagte er. «Es gibt Verluste, und sie sind schmerzhaft.» Doch an der Front im Osten entscheide sich, welche Seite in den kommenden Wochen dominieren werde. Je höher die Verluste des Feindes dort seien, desto weniger Kraft habe er, die Aggression fortzusetzen, sagte der Präsident.

London: Moskau kontrolliert Großteil von Sjewjerodonezk

Nach Einschätzung britischer Geheimdienste brachten die Russen nach mehr als einem Monat erbitterter Gefechte den Großteil der ukrainischen Stadt Sjewjerodonezk unter ihre Kontrolle. Dabei seien durch heftigen Beschuss enorme Kollateralschäden verursacht worden, hieß es am Mittwoch in der täglichen Lageeinschätzung des britischen Verteidigungsministeriums.

Díe Geheimdienste gehen davon aus, dass eine Vielzahl russischer Kräfte weiterhin rund um das örtliche Chemiewerk Azot gebunden sein wird, «solange die ukrainischen Kämpfer im Untergrund überleben können». In dem Werk sollen ukrainische Soldaten, aber auch Hunderte Bürgerinnen und Bürger, Zuflucht suchen. Für Mittwoch war die Schaffung eines humanitären Korridors angekündigt.

Russland liefert weniger Gas

Der russische Energieriese Gazprom hat die maximalen Gasliefermengen durch die Ostseepipeline Nord Stream 1 nach Deutschland um 40 Prozent verringert. Grund seien Verzögerungen bei Reparaturarbeiten durch die Firma Siemens, teilte der Staatskonzern in Moskau mit. Ein Gasverdichteraggregat sei nicht rechtzeitig aus der Reparatur zurückgekommen. Deshalb könnten täglich nur noch bis zu 100 Millionen Kubikmeter Gas durch die Pipeline gepumpt werden – rund 60 Prozent des bisher geplanten Tagesvolumens von 167 Millionen.

Die Bundesregierung sieht die Versorgungssicherheit dennoch als gewährleistet an. Für Deutschland ist Nord Stream 1 die Hauptversorgungsleitung mit russischem Gas.

Um die Versorgung mit Erdgas zu sichern, stützt die Bundesregierung ein früher russisches Gasunterunternehmen mit Milliardenbeträgen. Die jetzt von Deutschland kontrollierte Gazprom Germania soll nach Angaben aus Regierungskreisen neun bis zehn Milliarden Euro als Hilfen der staatlichen Förderbank KfW erhalten.

Das wird heute wichtig

Vor dem möglichen Besuch in Kiew besucht der französische Präsident Macron an diesem Mittwoch die Republik Moldau und trifft deren Staatschefin Maia Sandu. Die kleine Ex-Sowjetrepublik grenzt an die Ukraine und will ebenso wie diese der EU beitreten.

Mit der veränderten Sicherheitslage in Europa durch den russischen Angriffskrieg beschäftigen sich am Mittwoch die Verteidigungsminister der Nato-Staaten in Brüssel. Dabei geht es um die Verstärkung der Ostflanke und um die geplante Bündniserweiterung um Schweden und Finnland. Ende Juli wird die Nato ein Gipfeltreffen in Madrid abhalten.

Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage

Kiew (dpa) – Im Krieg gegen die russischen Invasionstruppen hat die Ukraine den Westen erneut mit Nachdruck zur weiteren Lieferung schwerer Waffen aufgerufen.

Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj nannten konkret Mehrfachraketenwerfer und Antischiffsraketen. Damit ließe sich auch die Blockade ukrainischer Häfen durchbrechen, hieß es. Der (heutige) Sonntag ist bereits der 95. Kriegstag. Russland hatte das Nachbarland Ukraine am 24. Februar angegriffen. Weiterlesen

Kiew probt trotz tiefer Kriegswunden wieder die Normalität

Ukraine
Von Ulf Mauder, dpa 

Kiew (dpa) – Der Einschlag einer russischen Rakete in einem 22-geschossigen Wohnhaus im Schewtschenko-Stadtviertel von Kiew hat in den unteren Etagen ganze Wohnungen weggesprengt. Bauarbeiter räumen an einem frühlingshaften Mai-Tag Trümmer beiseite, in den Etagen darüber ist die Fassade intakt.

Die Fensterscheiben fehlen. Unklar ist, ob die Statik hält. «Das wird schon», meint Gebäudeverwalter Jan. Die Rakete schlug am 28. April gegen 20.00 Uhr ein – als auch UN-Generalsekretär António Guterres in der Stadt war.

«Ich hatte um 19.00 Uhr mein Büro im dritten Stock verlassen, eine Stunde später kam der Anruf: Es gab eine Explosion», erinnert sich der Verwalter. Viele Wohnungen sind nicht mehr bewohnbar, in einigen leben aber wieder Menschen. «Vor allem Frauen kommen zurück», sagt Jan. «Einige waren nach ihrer Flucht zu Kriegsbeginn gerade erst wieder zurückgekehrt in die Wohnung, als die Rakete einschlug.»

Der Schock bleibt

Mehrere Menschen wurden an dem Tag Ende April verletzt. Die ukrainische Journalistin Wira Hyrytsch wurde tot aus den Trümmern geborgen. Auch einen Monat danach sitzt der Schock bei vielen tief. «Die Russen hassen uns, wollen uns und alles vernichten», sagt die 47 Jahre alte Tanja, die in die Wohnung im 21. Stockwerk will. «Dort sind nur die Fenster zerborsten, die wir jetzt auswechseln müssen», erklärt ihr Jan. Bezahlen muss sie das selbst.

Die private Unternehmerin erzählt, dass die Wohnung gerade renoviert werden sollte, deshalb sei niemand dort gewesen beim Raketenangriff. Sie schüttet ihr Herz aus: Mutter und Vater seien Russen, sie wohne mit der Mutter (77) und dem 52 Jahre alten Bruder, dem die Wohnung im Hochhaus gehört, in der Nähe. «Er kommt nach einer Covid-Erkrankung nicht auf die Beine. Ich weiß manchmal nicht, wie es weitergeht», sagt Tanja. Ihre Augen werden feucht. Vor allem vor dem Winter fürchtet sie sich, davor, dass Russland den Gashahn abdrehen könnte und die Menschen erfrieren lässt.

«Am schlimmsten ist, dass die Familie zerrissen ist. Mein Onkel in St. Petersburg, meine Freundin in Moskau, sie wollen nicht glauben, dass wir hier vom russischen Militär beschossen werden mit Raketen, dass sie Verbrechen begehen, Frauen vergewaltigen, morden und plündern. Sie halten das für Märchen.» Niemand dort frage mal, wie es ihnen geht. «Kein Kontakt mehr.»

Beschuss auf zivile statt militärische Objekte

Tatsächlich berichtet das russische Militär täglich, es würden nur militärische Objekte mit «Hochpräzisionswaffen» beschossen. Aber oft treffen sie in Wirklichkeit zivile Infrastruktur – wie hier. Gegenüber liegt das ebenfalls von einer Rakete getroffene Fabrikgebäude des Raketenherstellers «Artem». Das Dach ist zertrümmert, die Scheiben sind herausgeplatzt. Das Haus steht direkt an einem belebten Markt an der Metrostation Lukjaniwska. Russland hat den Luftschlag eingeräumt.

Überall in der Stadt sind an Stationen und öffentlichen Gebäuden zum Schutz Sandsäcke aufgestapelt. Tanja meint, es werde nichts helfen: «Viele haben das Land verlassen. Wir sind vielleicht noch 20 Millionen, sie sind 140 Millionen und werden uns einfach plattwalzen.» Die Gefahr ist auch in Kiew gegenwärtig – wo Luftalarm fast täglich daran erinnert, dass Raketen einschlagen können. Viele Hauptstädter ignorieren den Alarm. Gehortet wird aber, wo es geht, das knappe Benzin, um notfalls mit dem Auto zu flüchten.

Am Hauptbahnhof von Kiew kommen inzwischen täglich mehrere Züge mit rückkehrenden Geflüchteten an. Einige sagen, sie wollten nach dem Rechten sehen, Dinge erledigen und dann vorerst wieder ins Ausland fahren, bis das Leben hier wieder sicher ist. Aber viele kommen, um zu bleiben – auch wenn Bürgermeister Vitali Klitschko dazu rät, lieber dort zu bleiben, wo keine Gefahr droht.

Volle Züge, Busse und U-Bahnen

Noch immer sind einige Geschäfte und etwa auch die Schnellrestaurants der US-Kette McDonald’s geschlossen. Doch die Straßen, Busse und Züge werden immer voller. Während die Kämpfe vor allem im Osten der Ukraine weiter mit großer Härte toben, drängen sich die Menschen in Kiew wieder in den Metrowaggons, um zur Arbeit und nach Hause zu kommen. Die U-Bahn dient zwar weiter als Bunker, wenig erinnert aber daran, dass das Land schon fast 100 Tage im Kriegszustand ist.

Auf dem Hauptbahnhof ist aus Czernowitz in der Westukraine die Seniorin Olga nach mehr als zweieinhalb Monaten auf der Flucht angekommen. «Ich möchte wieder mein altes Leben zurück», sagt sie. Nach dem Einmarsch der russischen Truppen sei sie weg aus ihrem Stadtteil Obolon, als dort ein Panzer ein Auto zerdrückte. «Ich bin sogar drei Wochen lang vom Russischen ins Ukrainische gewechselt.» Inzwischen ist sie wieder bei ihrer Muttersprache.

«Niemand hier muss unsere russische Sprache schützen, wir sprechen sie und lassen uns das auch nicht verbieten», sagt sie mit Blick darauf, dass Kremlchef Wladimir Putin seinen Angriff nicht zuletzt damit begründet, er wolle die von der ukrainischen Regierung zurückgedrängte russische Sprache schützen. «Die da im Kreml sollen uns einfach in Ruhe lassen. Wir wollen unseren Weg gehen in Richtung Europa. In Russland ist nichts als Hass», sagt Olga.

Hass gegen Putin

Das Schimpfwort «Putin chuilo» – auf Deutsch etwa: «Putin ist ein Schwanzgesicht» – ist an vielen Orten in Kiew zu lesen. Der Hass richtet sich gegen den Kremlchef, aber auch gegen Russland insgesamt.

Nirgends in der Hauptstadt wird das deutlicher als auf dem Maidan, wo das Herz der ukrainischen Unabhängigkeit schlägt. Da stehen sie noch trotzig, die Panzersperren auf dem Platz der Unabhängigkeit, wo 2014 die proeuropäische Revolution den Weg vorgab. Ein Denkmal erinnert an die toten Helden der «Himmlischen Hundertschaft», die damals den russlandfreundlichen Staatschef Viktor Janukowitsch stürzten.

Kleine, blau-gelbe Fähnchen mit den Namen der Toten des russischen Angriffskrieges stecken im Rasen. Doch ein paar Meter weiter, auf der Prachtmeile Chreschtschatyk, ist an diesem frühlingshaften Mai-Tag vieles so wie vor dem Krieg – Menschen essen, trinken, lachen auf Terrassen in Cafés und Restaurants. Nur abends kehrt schlagartig Ruhe ein, wenn die Sperrstunde ruft – und sich wegen der Gefahr neuer russischer Raketenschläge niemand mehr draußen aufhalten soll.

 

 

Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage

Kiew/Moskau (dpa) – Drei Monate nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine erwartet Präsident Wolodymyr Selenskyj weitere schwere Wochen für sein Land. Erneut fordert er mehr Waffen vom Westen, damit die Ukraine sich verteidigen kann.

Seit Kriegsbeginn haben die Vereinten Nationen mittlerweile mehr als 6,5 Millionen Menschen registriert, die aus der Ukraine geflohen sind – ein Großteil davon nach Polen. Mindestens 3930 zivile Todesopfer wurden dokumentiert, die Zahl der von den UN bestätigten Verletzen beträgt 4532. Schon jetzt seien die Verluste der Russen in der Ukraine so hoch wie die der Sowjets in Afghanistan, schätzt der britische Geheimdienst. Weiterlesen

Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage

Kiew (dpa) – Nach wochenlanger Blockade haben gut 260 ukrainische Soldaten das Asow-Stahlwerk in Mariupol verlassen. Darunter waren 53 Schwerverletzte, wie der ukrainische Generalstab mitteilte.

Fast zeitgleich mit der Evakuierung gab es erneut einen russischen Luftangriff bei der Großstadt Lwiw im Westen der Ukraine. Weiterlesen

Deutsche Botschaft in Kiew öffnet in Minimalbesetzung wieder

Kiew (dpa) – Außenministerin Annalena Baerbock hat bei einem Besuch in der Ukraine die Wiedereröffnung der deutschen Botschaft in der Hauptstadt Kiew noch an diesem Dienstag angekündigt.

Die Arbeit der Botschaft werde in Minimalpräsenz wieder aufgenommen, sagte die Grünen-Politikerin in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit ihrem ukrainischen Amtskollegen Dmytro Kuleba in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. In der Botschaft werde es zunächst einen eingeschränkten Betrieb geben. Sie sei sehr froh, dass Botschafterin Anka Feldhusen wieder in Kiew arbeiten könne. Weiterlesen

Annalena Baerbock in Kiew – Treffen mit Kuleba geplant

Kiew (dpa) – Außenministerin Annalena Baerbock ist als erstes deutsches Kabinettsmitglied seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine in die Hauptstadt Kiew gereist.

Die Grünen-Politikerin machte sich am Dienstag zunächst im Vorort Butscha ein Bild von der Lage. Dort waren nach dem Abzug der russischen Truppen mehr als 400 Leichen gefunden worden – teils mit auf den Rücken gebundenen Händen. Baerbock wurde von einem Mitarbeiter der deutschen Botschaft an dessen Haus empfangen.

Die Ministerin wurde von der ukrainischen Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa begleitet. Am Nachmittag war unter anderem ein Gespräch Baerbocks mit ihrem ukrainischen Amtskollegen Dmytro Kuleba geplant. Weiterlesen

Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage

Kiew/Moskau (dpa) – Mitten im Angriffskrieg gegen die Ukraine feiert Russland heute mit einer Parade auf dem Roten Platz in Moskau den Sieg über Hitler-Deutschland.

Von der Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin werden unter anderem Hinweise darauf erwartet, ob es eine General- oder Teilmobilmachung in Russland geben könnte. Der Westen hat Russland vor dem Jahrestag mit neuen Sanktionen überzogen – und demonstriert Solidarität mit der Ukraine. Weiterlesen

Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage

Kiew/Berlin/Rom (dpa) – In der Ukraine gibt es Sorge vor einer deutlichen Ausweitung russischer Angriffe in den kommenden Wochen.

Mehrere ukrainische Medien griffen einen Bericht des US-Senders CNN zu Spekulationen auf, dass Kremlchef Wladimir Putin bereits in wenigen Tagen in Russland den Kriegszustand verhängen und eine Generalmobilmachung anordnen könnte. Auch der Chef der ukrainischen Militäraufklärung, Kyrylo Budanow, sprach von russischen Vorbereitungen auf eine offene Mobilisierung von Soldaten und Reservisten. Belege dafür gibt es nicht. Bislang spricht Russland offiziell nur von einer «Spezial-Operation» in der Ukraine. Weiterlesen

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