Holocaust-Überlebende empört sich über Krieg in der Ukraine

Ockenheim (dpa/lrs) – Die Holocaust-Überlebende Henriette Kretz ist entsetzt über die Gräuel im Ukraine-Krieg. «Ich bin wütend, ich bin schrecklich wütend, dass so etwas passiert», sagte die in der heutigen Ukraine geborene Zeitzeugin am Dienstag bei einer Woche des Austauschs mit Schülerinnen und Schülern in Rheinland-Pfalz. Jetzt sehe sie dort «dieselbe Gewalt, dieselbe Brutalität» wie im Zweiten Weltkrieg. Damals wie heute versuchten die Täter durch Propaganda und in der Erziehung die Überzeugung zu vermitteln, «dass sie Gutes tun», sagte die 87-Jährige über eine Videoleitung aus der belgischen Stadt Antwerpen.

Henriette Kretz wurde 1934 in Iwano-Frankiwsk geboren, das damals als Stanislawow zu Polen gehörte. Sie war knapp zehn Jahre alt, als ihre jüdischen Eltern vor ihren Augen erschossen wurden. Sie überlebte in einem Versteck in einem Nonnenkloster.

«Die Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus sind für uns eine immerwährende Ermahnung und Verpflichtung», sagte Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD) im Bildungszentrum Kloster Jakobsberg in Ockenheim (Kreis Mainz-Bingen). Dort haben das Bistum Mainz und das Maximilian-Kolbe-Werk in dieser Woche Schulklassen zum Austausch eingeladen unter dem Motto: «Fragt uns, wir sind die Letzten… Erinnern für die Zukunft».

Am eindrücklichsten sei immer das unmittelbare Gespräch, sagte Hubig. «Wir wollen den Kontakt mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ermöglichen, solange dies in der ersten Generation noch geht. Wir müssen aber auch andere Formate finden.» Dazu gehörten Gespräche mit Zeitzeugen der zweiten Generation – «auch Kinder und Enkel können viel berichten, wie Familien traumatisiert worden sind». Weitere Möglichkeiten seien die Beschäftigung mit Stolpersteinen vor Ort, die Spurensuche zu Lebensläufen von Betroffenen oder Filme mit Aufzeichnungen von Zeitzeugenberichten.

Der Filmemacher Edmund Bohr und der Autor Reiner Engelmann stellten in Ockenheim ihren Film vor mit dem Titel «Henriette Kretz. Der Holocaust durch die Augen eines Kindes». Ein zweiter Film mit Niusia Horowitz-Karakulska ist auch schon fertig. Geplant seien zurzeit insgesamt fünf Filme mit Berichten von Zeitzeugen, sagte Bohr.

«Es ist wichtig, den Überlebenden die Möglichkeit zu geben, ihre Geschichte zu erzählen», sagte die 16-jährige Schülerin Soraya aus der Maria-Ward-Schule in Mainz. Geschichte müsse bewahrt werden, damit sie sich nicht wiederholen könne, fügte die 17 Jahre alte Anna hinzu. «In letzter Zeit merkt man, dass der Antisemitismus wieder stärker wird.» Auch Schülerinnen und Schüler aus Bingen, Ingelheim und Alzey kommen in dieser Woche nach Ockenheim. In den vergangenen beiden Jahren war der Austausch wegen der Corona-Pandemie nicht möglich gewesen.

«Wir müssen dagegen vorgehen, wenn Menschen ausgegrenzt werden», mahnte Bildungsministerin Hubig. Ein zentraler Baustein der Demokratiebildung sei es, dass Jugendliche mindestens einmal während ihrer Schulzeit mit Zeitzeugen in Kontakt kommen oder sich mit dem Leben der Betroffenen von NS-Verbrechen beschäftigen könnten.

Die aktuelle Erfahrung russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine – mit Verbrechen zum Teil an denselben Orten wie im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen verübt – mache die Bedeutung der demokratischen Werte Europas neu bewusst, sagte die Ministerin. «Da ist es wichtig, die Erzählungen zu bewahren.» Die Schülerinnen und Schüler machten in der Begegnung mit den Zeitzeugen oft die Erfahrung: «Das hat auch etwas mit uns selbst zu tun, mit unseren Familien und mit unserem Verhalten anderen gegenüber.»

Das Bistum Mainz und das Maximilian-Kolbe-Werk haben in dieser Woche Schulklassen zum Austausch eingeladen unter dem Motto: «Fragt uns, wir sind die letzten… Erinnern für die Zukunft». Neben Henriette Kretz gehört der 83 Jahre alte Mieczyslaw Grochowski zu den Gesprächspartnern, der als Vierjähriger die menschenunwürdigen Bedingungen im Internierungs- und Arbeitslager Lebrechtsdorf-Potulitz erlebte, wohin seine gesamte Familie verschleppt worden war.

Ebenfalls mit dabei ist Jozefa Posch-Kotyrba, die fünf Jahre alt war, als ihre Familie 1943 von der Gestapo verhaftet wurde. Ihr Vater wurde als Untergrundkämpfer erschossen. Die 84-jährige Alodia Witaszek-Napierala hat auch schon in vergangenen Jahren Schülerinnen und Schülern über ihre Kindheit berichtet, in der sie von ihren Eltern getrennt wurde, um «germanisiert» zu werden. Sie sehe nicht mehr so gut, sagte sie am Dienstag im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Aber es sei ihr wichtig, gleich mit den Jugendlichen zusammenzutreffen und aus ihrem Leben zu berichten.

 

 

 

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