Zirkus im Selbstversuch: Im Todesrad in der Manege von Flic Flac

Von Ulli Brünger, dpa

Viele Kinder träumen vom Zirkusleben als Artist oder Clown. Es hat wohl etwas Verlockendes und Romantisches. Doch wie sieht der Alltag im Zirkus aus? Viel Schweiß und harte Arbeit stehen vor dem Applaus. Ein Blick hinter die Kulissen von Flic Flac – und ein Selbstversuch.

Duisburg (dpa) – Ende Juli, ein extrem heißer Sommertag. Das Thermometer zeigt deutlich über 30 Grad. Die Manege und die Tribünen im riesigen schwarz-gelben Zelt des Zirkus Flic Flac in Duisburg sind leer. Hier und da hämmern oder schrauben im Hintergrund Handwerker und Mitarbeiter, die etwas aufbauen oder instandsetzen. Im Backstagebereich spielen junge Leute Tischtennis. Auf einem großen Trampolin hüpfen Kinder, quietschend vor Vergnügen. Ein Stimmengewirr aus verschiedenen Sprachen schwirrt durchs aufgeheizte Zelt.

Seit Jahren fester Bestandteil bei Flic Flac und eine Hauptattraktion ist das Todesrad. Zwei junge Kolumbianer bewegen sich katzengleich auf einem rotierenden Metall-Gebilde, das aussieht wie zwei zusammengeschweißte, überdimensionale Hamsterräder. Das Prinzip ist eigentlich simpel: Man läuft im Rad und treibt das ganze Konstrukt mit Muskelkraft an. Während einer mit dem Rad nach oben unter die Zirkuskuppel fährt, geht es für den Gegenpart in die Tiefe. Je schneller man läuft, desto schneller dreht sich das Todesrad um seine Achse. Erste Bedingung: schwindel- und möglichst angstfrei sein. Denn es geht gut zehn Meter hinauf unter das Dach. Gutes Balancegefühl ist ebenfalls von Vorteil.

Wenn Carlos Mayorga Macias und Robinson Valencia Lozada am Rad drehen, sieht alles spielerisch leicht aus. Kann für einen ehemaligen Turner also nicht so schwierig sein. Doch hatte sich im Januar bei einer Vorstellung in Dortmund nicht eine der riesigen Ratschen gelöst, mit denen die dicken Drahtseile festgezurrt werden? Das Konstrukt geriet seinerzeit in Schieflage und die Flyers Valencia – so nennt sich das kolumbianische Duo – machten den Abflug. Die beiden wagemutigen Artisten hatten Glück, sie kamen mit Prellungen davon.

Dennoch: Der Vorschlag, den Probanden mit Seilen zu sichern, stößt auf offene Ohren. Dann gehts los: erst langsam, dann immer schneller dreht sich das Rad. Das Schwierigste ist anfangs, die Orientierung im Raum zu behalten. Als hilfreich erweist sich ein Blick zur Seite. Wenn die Tribünen auf dem Kopf stehen, läuft etwas schief. Und wenn Carlos am anderen Ende richtig Gas gibt, sollte man flugs hinterherkommen, um nicht vornüber zu fallen. Ein Sturz wäre jetzt fatal, weil sich das Gebilde erstmal weiterdrehen würde. Und: Da die Klimaanlage aus Kostengründen bei den Proben nicht arbeitet, ist es hoch oben unter der Kuppel verdammt heiß. Ist es nun Angstschweiß, der den Rücken herunterrinnt? Oder nur die Hitze? Egal – nicht stehen bleiben! Weiterlaufen! «Gut gemacht», sagt Valencia später.

Jeden Tag trainiert er mit seinem Partner. Beide müssen sich blind aufeinander verlassen und verständigen sich mit kurzen Kommandos. Höhepunkt eines jeden Auftritts ist, wenn Carlos freihändig oben auf dem rotierenden Rad läuft und dann, auf die Zehntelsekunde genau, einen Salto vorwärts macht. Das Kunststück muss ihr Gast aber nicht nachahmen und hat wenig später wieder festen Boden unter den Füßen. «Gut gemacht», sagt Valencia.

Gemächlicher geht es bei den Bello Sisters zu. Die drei höflichen und zurückhaltenden jungen Damen Loren (24), Celine (21) und Joline (18) Bello sind Deutsch-Italienerinnen und entspringen einer Zirkus-Dynastie. Die Mutter war Hochseilartistin, der Vater Akrobat. Das Schwestern-Trio, das auf eine Zirkusschule in Italien ging, verkörpert inzwischen die achte Generation der Zirkusfamilie. «Wir waren als Kinder immer beim Training und den Vorstellungen dabei. Und ich war als Älteste immer das Versuchskaninchen», sagt Loren lachend. Immerhin trauen sie ihrem Interview-Partner eine tragende Rolle als Untermann zu. Also: Auf den Rücken legen, Arme nach oben strecken. Und Joline drückt sich ohne Murren auf fremden Händen in den Handstand. Et voilà!

2018 unterschrieben die Bello Sisters ihren ersten gemeinsamen Vertrag bei Roncalli. Auch im Zirkus Knie haben sie schon gearbeitet. Sie sind auf Hand-auf-Hand-Akrobatik spezialisiert, bauen Pyramiden, drücken Handstände und verbiegen sich dabei. Besonderer Clou ihres Auftritts: Während die Drei aufeinander herumturnen, stürzt literweise Wasser auf sie herab. Was alles natürlich erschwert, aber im Scheinwerferlicht besonders effektvoll wirkt. «Das größte Problem war am Anfang, wenn wir das Wasser in die Augen bekommen haben. Außerdem ist natürlich alles ziemlich glitschig», sagen sie. Wenn sie nicht gerade ihr Publikum begeistern oder beim Training schwitzen, tun sie gern das, was viele junge Frauen gerne tun. «Shoppen», sagen sie unisono. Am liebsten in Düsseldorf. Gut möglich, dass aus dem Bello-Trio bald ein Quartett wird. Denn die jüngste Schwester (12) übt daheim in Italien auch schon fleißig.

Feste Bestandteile der Sommer-Edition, die jeweils von donnerstags bis sonntags nahe des Duisburger Hauptbahnhofs läuft, sind der tschechische Meister-Jongleur Zdenek Polách, der bis zu sieben speziell für ihn angefertigte große Bälle gleichzeitig kreiseln lässt und das Duo Strapaten. Valentyn Shevchenko war ein erfolgreicher ukrainischer Nationalturner, seine Ehefrau Yuliya Shanchunko stammt aus Belarus und ist Zirkus-Quereinsteigerin. Das Paar erzählt mit spielerischer Leichtigkeit eine Liebesgeschichte an zwei Strapaten (Stoffbändern) hoch oben unter der Zirkuskuppel. Einmal Valentyns Part zu übernehmen und an einem Arm hängend gemeinsam mit Yuliya durch die Manege zu schweben, ist eine unvergessliche Erfahrung. Ach, wenn man doch 30 Jahre jünger wäre…

Dann schaut die Chefin vorbei. Larissa Karstein ist 35. Sie sieht so durchtrainiert aus als könnte sie noch selbst in der Manege stehen. Dabei hat sie ihre Karriere als Artistin mit der Geburt ihrer Tochter schon vor einigen Jahren beendet. Zusammen mit ihrer fünf Jahre jüngeren Schwester Tatjana (30) führt Larissa das Familien-Unternehmen Flic Flac.

Vor zwei Jahren zog sich ihr Vater Benno Karstein endgültig aus der ersten Reihe zurück und überließ die Regie seinen beiden Töchtern. Den Zirkus hatte er im Oktober 1989 – gut einen Monat vor dem Mauerfall – gemeinsam mit seinem Bruder Lothar gegründet. «Tatjana und ich sind im Zirkus groß geworden. Ich stand mit Fünf das erste Mal auf der Bühne», erzählt Larissa und lehnt sich dabei lässig ans Trampolin. «Es ist ganz viel Leidenschaft dabei. Von daher war es überhaupt keine Frage, dass ich beim Zirkus bleibe. Ich kann mir auch gar nichts anderes vorstellen.»

Ihre Mutter, die inzwischen in Spanien lebt, war einst für das Geschäftliche und die Organisation des Familienbetriebes zuständig. Vater Benno war selbst Artist. Er verkörpert sozusagen die erste Flic-Flac-Generation. Während Larissa nun die künstlerische Gesamtverantwortung trägt, kümmert sich Tatjana um Kasse, Büro und Organisation.

Nachdem der Zirkus in den vergangenen 30 Jahren stetig gewachsen war, übernahmen die Schwestern die Flic-Flac-Gruppe in der größten Krise. Corona kam und mit dem Virus alles zum Erliegen. Ausgerechnet nach dem bisher erfolgreichsten Jahr der Unternehmensgeschichte. 2019 strömten etwa 610 000 Besucher zu einer der zahlreichen Shows. Flic Flac ist international etabliert. Die Künstler und Artisten tingeln um die ganze Welt, arbeiten auch in Las Vegas, beim kanadischen Konkurrenten Cirque du Soleil oder auf anderen berühmten Bühnen.

«Nach dem Lockdown 2020 haben uns die Corona-Hilfen des Staates geholfen», erläutert Larissa. Denn die Einnahmen waren gleich Null. Im vergangenen Jahr habe man sich dann mit Mühe, Ideenreichtum und Durchhaltevermögen durchgewurschtelt. Nun endlich kann der Zirkus wieder Zuschauer in dem nun festen Quartier mit Biergarten auf dem ehemaligen Loveparade-Gelände in Duisburg begrüßen. Noch bis zum 18. September läuft die atemberaubende Sommer-Show. Danach geht es gleich an die Vorbereitung und Umsetzung der Weihnachtsaufritte. Das Todesrad dreht sich immer weiter.

 

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