Weder Reh noch Faultier: Klimawende ohne Starren auf 1,5-Grad-Ziel

Von Christiane Oelrich, dpa

Warum die Klimawende so schwer ist? Weil Menschen faul, egoistisch und kurzsichtig seien, meint der Schweizer Klimaphysiker Reto Knutti. Aber die Experten sind sich einig: Das Know-how und die Mittel sind vorhanden, um die Klimakatastrophe noch abzuwenden.

Genf (dpa) – Eine Klima-Hiobsbotschaft nach der anderen jagt dieser Tage durch die Nachrichten. Abgesehen von Überschwemmungen in Pakistan und anderswo und Dürren etwa am Horn von Afrika sind es vor allem wissenschaftliche Berichte mit der Botschaft: Es wird immer noch nicht genug getan, um verheerende Klimaveränderungen zu begrenzen. Das Ziel des Pariser Klimaabkommens von 2015, die Erwärmung möglichst auf 1,5 Grad zu begrenzen, ist in weiter Ferne.

«Wir sind bei Umfang und Geschwindigkeit von Emissionssenkungen überhaupt noch nicht da, wo wir für eine Welt mit höchstens 1,5 Grad Erwärmung sein müssten», sagte Ende Oktober der Exekutivsekretär des UN-Rahmenübereinkommen über Klimaänderungen (UNFCCC), Simon Stiell. Beim Weltklimagipfel ab 6. November in Scharm el Scheich in Ägypten sollen Regierungen mehr Ehrgeiz zeigen. Sie müssen die Treibhausgase in der Atmosphäre stärker reduzieren, die die Wärmeabstrahlung der Erde zurückhalten und höhere Temperaturen verursachen.

Zur Zeit sieht es so aus: Die Klimaerwärmung liegt schon jetzt bei mehr als 1,1 Grad über dem Niveau vor der Industrialisierung (1850-1900). Die Jahres-Durchschnittstemperatur der Welt könnte nach Angaben der Weltwetterorganisation (WMO) schon bis 2026 erstmals mehr als 1,5 Grad über dem vorindustriellen Niveau liegen. In den Folgejahren kann der Durchschnittswert dann wieder niedriger liegen.

«Wir sind eher auf einem 3-Grad-Pfad», sagt Ottmar Edenhofer, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. Eine unabhängige wissenschaftliche Analyse der getroffenen Maßnahmen und Versprechen, festgehalten im Climate Action Tracker, kommt bei den umgesetzten Klimaschutzmaßnahmen auf eine Erwärmung von 2,7 Grad bis Ende des Jahrhunderts, bei den Versprechungen von 2,4 Grad.

Die deutsche Transformationsforscherin Maja Göpel kritisiert die Fixierung allerseits auf das 1,5-Grad-Ziel. Damit «verlabern wir weiter unsere Chancen und erwecken den Anschein, als ob es sich sonst nicht mehr lohne», sagte sie der Zeitschrift «Journalist». Ihre Devise: «Weder wie ein Reh im Scheinwerferkegel aufs herannahende Temperaturziel zu starren noch wie ein Faultier irgendwann vom brennenden Baum zu plumpsen, sondern sich klar zu machen: 1,6 Grad sind sehr viel besser als 2 Grad, und 2,1 Grad ist besser als 3.»

Weil es im Pariser Abkommen steht und Computermodelle damit rechnen können, bleiben viele Institute vorerst beim 1,5-Grad-Ziel. Etwa der Weltklimarat: Er berichtet, dass der Höhepunkt der weltweiten Treibhausgas-Emissionen für die Einhaltung dieses Ziels noch vor 2025 erreicht werden müsste. Bis 2030 müsse der Ausstoß dieser Gase im Vergleich zu 2019 um 43 Prozent sinken und danach weiter zurückgehen. Der Nettoausstoß von CO2 müsse Anfang der 2050er Jahre bei Null sein und der Ausstoß der anderer Treibhausgase müsse stark sinken.

«Es ist in einem technischen Sinne noch zu schaffen», sagt Edenhofer. Dafür sind aber Mega-Anstrengungen nötig. Allein die Stromproduktion aus Quellen ohne Treibstoffausstoß muss nach Angaben der Weltwetterorganisation (WMO) in den nächsten acht Jahren verdoppelt werden. Dazu gehört für WMO-Chef Petteri Taalas auch Atomenergie.

Warum es nicht schneller voran geht? Der Schweizer Klimaforscher Reto Knutti sagte der «Sonntagszeitung»: «Die vier größten Umweltprobleme sind: Der Mensch ist dumm, faul, egoistisch und kurzsichtig.» Es gebe zu viele Partikularinteressen, politische Grabenkämpfe und kurzfristiges Denken. Dabei sei die Klimawende nicht nur bezahlbar, sondern auch viel günstiger als jedes Abwarten.

Die Internationale Energieagentur (IEA) sieht in der Energiekrise, ausgelöst durch den russischen Krieg gegen die Ukraine, die Chance, dass es zu einem «endgültigen Wendepunkt hin zu einem saubereren, erschwinglicheren und sicheren Energiesystem kommt», wie IEA-Direktor Fatih Birol sagte. Prognosen zeigten, dass die Nutzung fossiler Energieträger in den nächsten Jahren zurückgehen.

Das Wirtschaftsforschungsunternehmen Prognos ist überzeugt, dass Deutschland bis 2045 Klimaneutralität erreichen kann. Gemeint ist damit, dass nicht mehr Kohlenstoff ausgestoßen wird, als in Senken gespeichert werden kann. Der Treibhausgasausstoß müsse dafür bis 2030 um 65 Prozent unter das Niveau von 1990 gebracht werden, schrieb Prognos 2021. Laut Bundesumweltamt waren es 2021 erst 38,7 Prozent. «Deutschland hätte dadurch erst recht die Chance, in der weltweiten Dynamik hin zur Klimaneutralität zum Leitmarkt und Leitanbieter für Klimaschutztechnologien zu werden», so das Institut.

Das Potsdam-Institut warnt, dass selbst 1,5 Grad keine Garantie sind, dass die Welt an beispiellosen Veränderungen vorbeischrammt. So genannte Klima-Kippelemente seien schon bei einer Erwärmung von 1,5 Grad eine reale Gefahr. Das sei wie bei einem Stift, dem man immer weiter über die Tischkante schiebt: es passiert nichts, bis er fällt – im übertragenen Sinne: bis ein System unwiderruflich zusammenbricht.

Eines von mehreren Beispielen dafür ist Grönlands Eisschild: Der Eisverlust nimmt stark zu, und damit sinkt die Oberfläche aus kalten in wärmere Luftschichten, was das Abschmelzen wiederum verstärkt. Der Kipppunkt, der zu vollständigem Eisverlust führt, könnte dort nach Berechnungen schon bei plus 1,5 Grad erreicht werden. Das würde zu einem Meeresspiegelanstieg von bis zu sieben Metern führen, über mindestens 1000 Jahre immerhin.

 

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