Selenskyj verurteilt Video mit Erschießung eines Soldaten

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verurteilte in seiner abendlichen Ansprache die Tötung eines ukrainischen Kriegsgefangenen, der mutmaßlich von russischen Soldaten mit zahlreichen Schüssen umgebracht wurde, nachdem er die Worte «Ruhm der Ukraine» gesagt hatte. Weiterlesen

Deutschland will von Schweiz Leopard-Panzer zurückkaufen

Berlin/Bern (dpa) – Deutschland will mit einem Rückerwerb von Kampfpanzern des Typs Leopard 2 aus der Schweiz Materiallücken in der Bundeswehr schließen. Die Bitte um einen Verkauf sei in einem Brief vorgebracht worden, bestätigte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums in Berlin heute. «Im Grunde steht da drin, dass wir uns freuen würden, wenn die Schweiz über die Veräußerung von Beständen aus der stillgelegten Flotte der Schweizer nachdenken würden», sagte er. Zuerst hatte die Schweizer Zeitung «Blick» darüber berichtet.

Ein entsprechendes Gesuch ging an das Verteidigungsministerium in Bern, wie dessen Sprecher Renato Kalbermatten am Freitag bestätigte. Wie viele Panzer Deutschland kaufen wolle, sagte das Schweizer Verteidigungsministerium nicht. Vertraglich ausgeschlossen werden könne, dass die Panzer aus der Schweiz später an die Ukraine gegeben würden, sagte der Sprecher des deutschen Verteidigungsministeriums auf eine Frage. Ziel ist dem Vernehmen nach, sie von der deutschen Rüstungsindustrie modernisieren zu lassen oder Baugruppen als Ersatzteile zu verwenden. Weiterlesen

Kämpfe wie im Ersten Weltkrieg in der Ukraine – EU besorgt

Brüssel (dpa) – In der EU wachsen wegen der jüngsten Entwicklungen an der Front in der Ukraine die Sorgen. Das Kriegsgeschehen erinnere an die Grabenkämpfe im Ersten Weltkrieg, und die ukrainischen Streitkräfte seien den Angreifern aus Russland derzeit in einigen Schlüsselbereichen zahlenmäßig stark unterlegen, sagte ein ranghoher EU-Beamter heute in Brüssel.

Die Einschätzung sei, dass die Lage auf dem Schlachtfeld, sehr vorsichtig ausgedrückt, «nicht einfach» sei. Zu Kriegsbeginn seien die Ukrainer noch zahlenmäßig überlegen gewesen. Derzeit müssten große Zahlen an Soldaten um sehr kleine Geländebereiche kämpfen.

Munition dringend benötigt

Was die Ukraine nun am dringendsten aus der EU benötige, sei zusätzliche Munition, sagte der Beamte, der namentlich nicht genannt werden wollte. Zudem brauche es weitere moderne Flugabwehrsysteme und Artillerie mit größerer Reichweite. Die Russen hätten Waffen zuletzt 120 Kilometer hinter die Frontlinie zurückgezogen, und die Ukrainer hätten in der Vergangenheit nur Artillerie mit einer Reichweite um die 80 Kilometer bekommen. Weiterlesen

Finnisches Parlament stimmt für Nato-Beitritt

Helsinki/Budapest (dpa) – Der Weg von Finnland in die Nato ist zumindest von finnischer Seite aus frei. Das Parlament in Helsinki stimmte mit breiter Mehrheit für einen Regierungsvorschlag zur Gesetzgebung, die für den Beitritt des Landes in das westliche Verteidigungsbündnis nötig ist.

Präsident Sauli Niinistö muss das Ganze noch absegnen, hat aber bereits angekündigt, das umgehend nach dem Votum tun zu wollen. Für den Beitritt der Finnen fehlt jedoch weiterhin die Ratifizierung durch die Türkei und durch Ungarn, dessen Parlament heute mit einer Debatte über die Annahme der Beitrittsprotokolle begann.

Finnland hat eine 1340 Kilometer lange Grenze zu Russland. Angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hatte das nördlichste Land der EU im Mai 2022 ebenso wie das benachbarte Schweden die Mitgliedschaft in der Nato beantragt. Weiterlesen

Trauer und Zuversicht in Kiew – Z-Symbole in Moskau

Von Andreas Stein, Ulf Mauder und Hannah Wagner, dpa

Kiew/Moskau (dpa) – Vor der mittelalterlichen Sophien-Kathedrale steht Wolodymyr Selenskyj in seinem militärgrünen Outfit an diesem Morgen bei eisiger Kälte vor Hunderten Soldaten, als die ukrainische Hymne erklingt. Die blau-gelbe Fahne wird gehisst.

Andächtig und ohne Mütze würdigt der 45-Jährige die Verteidiger der Ukraine. Seit dem 24. Februar 2022 führt er das Land im Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg. «Slawa Ukrajini!», ruft er: «Ruhm der Ukraine.» «Herojam slawa!» – «Ruhm den Helden» – ruft die Menge zurück.

Der Jahrestag des russischen Kriegsbeginns gegen die Ukraine ist bei den Angegriffenen ein Tag der Trauer über die vielen Toten. Er ist aber auch ein Tag der Zuversicht, dass die Ukraine am Ende siegt.

So sagt es auch Selenskyj schon vor dem gar nicht angekündigten Auftritt am frühen Morgen in Kiew: «Es war ein Jahr des Schmerzes, der Sorgen, des Glaubens und der Einheit.» Es sei vor einem Jahr eine Entscheidung gewesen für viele, sich dem Kampf zu stellen oder die Flucht zu ergreifen. «Widerstand und Kampf» ist auch Selenskyjs Wahl gewesen, obwohl in Moskau viele damit gerechnet hatten, er würde abhauen. «Wir wissen, dass 2023 das Jahr unseres Sieges sein wird», sagt Selenskyj nun.

Vor der Sophien-Kathedrale verleiht er nach einer Schweigeminute Orden. Die Soldaten knien vor Fahnen nieder, küssen den Stoff. Es sind kaum Zuschauer da, der Platz ist weiträumig abgesperrt, die Sicherheitsvorkehrungen sind extrem. Nicht oft ist Selenskyj so in aller Öffentlichkeit auf einem freien Platz zu sehen.

Ein paar Straßen weiter gehen die Hauptstädter heute ihrem Alltag nach, laufen mit Kaffeebechern in der Hand zur Arbeit. Es ist ein Tag ohne die befürchteten neuen russischen Raketen- oder Drohnenangriffe, ohne Luftalarm, der sonst eigentlich Alltag ist in Kiew. Als vor einem Jahr Kremlchef Wladimir Putin den Angriff auf die Ukraine befahl, versetzte das viele in der Hauptstadt in Panik. Zehntausende ergriffen die Flucht. Inzwischen sind viele zurückgekehrt.

Ein Jahr später macht sich aber am Jahrestag auch Trauer breit. In der Wolodymyr-Kathedrale – an dem im Sommer beschaulichen Botanischen Garten – verabschieden sich Soldaten in Uniform von ihrem Kameraden Jurij Storoschew. Der Soldat mit dem Kampfname Kruk (Krähe) diente in der «Ukrainischen Legion», bis er vor einer Woche im Osten des Landes getötet wurde.

«Er war der beste Mensch, den es auf der Welt geben kann. Er hat am Tag, als er starb, noch eine Stunde vor seinem Tod, selbst Verletzten geholfen. Er war seit den ersten Tagen an der Front», erzählt ein 39 Jahre alter Soldat unter Tränen. Er nennt sich Transit, kein echter Name. Er ist selbst verletzt am Knie. «Das ist nichts, es heilt. Dann gehe ich wieder an die Front.»

In der Kirche im byzantinischen Stil ist der Sarg aufgebahrt, mit der blau-gelben Staatsflagge bedeckt. Mehr als 100 Menschen sind gekommen, sie halten Kerzen am Sarg, während Priester und ein Kirchenchor ihnen mit herzzerreißenden Gesängen Beistand leisten. In seiner Predigt erinnert Erzpriester Bohdan Wajda daran, dass die Kirche die Menschen lehre, nach den Geboten Gottes zu leben. «Die Kirche kann Schandtaten und Mord nicht segnen», betont er. Doch zugleich sei dem Feind dank der ukrainischen Soldaten eins «auf die Fresse» gegeben und dieser weit weg gejagt worden.

Kurz danach knien die Soldaten am Sarg nieder, viele brechen in Tränen aus, Trauernde legen rote Rosen nieder. Jurij hinterlässt Frau und zwei Kinder, wie die Anwesenden erzählen.

Nationalismus und Kriegspropaganda in Moskau

In Moskau wird unterdessen demonstrativ Nationalismus zur Schau getragen – und eine ordentliche Portion Kriegspropaganda. Bereits seit Wochenbeginn inszeniert sich das Aggressorland als Opfer. In seiner Rede zur Lage der Nation warf Kremlchef Wladimir Putin dem Westen am Dienstag vor, «den Krieg losgetreten» zu haben. Am Mittwoch ehrte er russische Soldaten im Moskauer Luschniki-Stadion – und rief der Russlandfahnen schwenkenden Menge zu: «Hurra! Hurra! Hurra!» Am Donnerstag dann, dem «Tag der Vaterlandsverteidiger», sprach Putin von der Verteidigung «unserer historischen Gebiete».

Am selben Tag flanierten Hunderte Moskauer bei Sonnenschein und klirrend kalten Temperaturen um minus zehn Grad über den Roten Platz. Eltern fotografierten ihre Kinder vor Aufstellern mit den Buchstaben Z und V – den Unterstützungssymbolen für den Krieg. Männer posierten vor einem großen Schriftzug in den Farben der russischen Flagge: «My wmeste» – «Wir halten zusammen». Umfragen zeigen, dass die deutliche Mehrheit der Russen den noch immer als «militärische Spezialoperation» bezeichneten Krieg weiter unterstützt.

Am Jahrestag selbst ist die Sonne in Moskau verschwunden, dichte Wolken sind aufgezogen, feiner Schnee rieselt. Kritik am Krieg gegen die Ukraine kommt vor allem von ins Ausland geflohenen Russen, die die Strafen des repressiven Machtapparats ihrer Heimat nicht mehr fürchten müssen. Von «Schmerz» und «Scham» ist in ihren Social-Media-Beiträgen mit Blick auf die vielen Tausend Opfer in der Ukraine die Rede.

Nach Tausenden Festnahmen in den ersten Kriegswochen sowie im Herbst nach Beginn der Mobilmachung findet Protest in Russland mittlerweile nur noch im ganz Kleinen statt. Auf einer Grünfläche im Moskauer Stadtzentrum sind in den frühen Morgenstunden ein Grablicht und ein handgeschriebener Zettel aufgetaucht. Mit roter Schrift steht dort: «Ukraine, vergib’ uns.» Nach wenigen Stunden ist der Zettel weggeräumt und ein Polizeiauto am Ort aufgetaucht.

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Panzerwrack aus Ukraine steht jetzt vor russischer Botschaft

Berlin (dpa) – Zum Jahrestag des Kriegsbeginns in der Ukraine ist ein zerstörter russischer Panzer vor der Botschaft Russlands in Berlin aufgestellt worden. Das Panzerwrack vom Typ T-72 kam am frühen Freitagmorgen in der Hauptstadt an. Es soll für einige Tage vor der Botschaft am Boulevard Unter den Linden als Mahnmal gegen den Krieg dienen.

Der Panzer steht heute auf dem Anhänger, mit dem er aus der Ukraine nach Deutschland transportiert wurde. Ausgerichtet war das Wrack quer auf dem Mittelstreifen der großen Straße, die Kanone zeigte auf die Botschaft. Weiterlesen

WTO: Welthandel trotz russischer Invasion «gut gehalten»

Genf (dpa) – Der befürchtete Einbruch des Welthandels nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ist nach Angaben der WTO ausgeblieben. Grund sei unter anderem, dass Länder trotz Versorgungsängsten keine Handelsbarrieren aufgebaut hätten, berichtete die Welthandelsorganisation (WTO) heute in Genf.

Sie geht für 2022 von deutlich mehr als drei Prozent Wachstum des Welthandels aus. Die Zahlen werden im April veröffentlicht. «Der Welthandel hat sich vor dem Hintergrund des Kriegs gut gehalten», sagte WTO-Chefökonom Ralph Ossa.

Preise stiegen weniger stark als befürchtet

Auch die Preise von Gütern, die vom Krieg betroffen waren, stiegen weniger scharf als befürchtet. Weil Russland ukrainische Exporte behinderte und wegen Sanktionen selbst Exportprobleme bekam, hatten Ökonomen einen Preisanstieg in ärmeren Ländern um 85 Prozent nicht ausgeschlossen. Tatsächlich stieg er dort um 17 Prozent, so die WTO. Den größten Preisanstieg habe es bei Mais gegeben: plus 24,2 Prozent. Weiterlesen

Ukraine wirft Moskau Verschleppung von Kindern vor

New York (dpa) – Ein Jahr nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine hat eine Debatte der UN-Vollversammlung die Kluft zwischen den Kriegsparteien erneut offengelegt. Während der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba Russland bei dem hochrangig besetzten Treffen in New York gestern (Ortszeit) Völkermord vorwarf, sagte Russlands UN-Botschafter Wassili Nebensja, der Westen wolle sein Land «zerstückeln und zu zerstören».

UN-Generalsekretär António Guterres warnte unterdessen vor einer Ausweitung des Konflikts und dem Einsatz von Atomwaffen. An diesem Donnerstag soll auch Bundesaußenministerin Annalena Baerbock vor der Vollversammlung sprechen.

Kuleba: Stehen Völkermord gegenüber

Ein Jahr nach Kriegsbeginn stellte Kuleba vor dem größten UN-Gremium eine Resolution mit der Forderung nach Frieden und dem Rückzug Moskaus vor, die heute beschlossen werden soll. Der Entwurf bekräftigt eine Reihe zuvor bereits abgestimmter Positionen der Vollversammlung wie die territoriale Integrität der Ukraine. Weiterlesen

Caritas: 17,7 Millionen Menschen in Ukraine brauchen Hilfe

Freiburg (dpa) – 17,7 Millionen Menschen in der Ukraine sind nach Einschätzung von Caritas International dringend auf Hilfe angewiesen. Die katholische Hilfsorganisation werde die Menschen in der Ukraine und in den Nachbarländern so lange unterstützen, wie es nötig sei, versicherte deren Leiter Oliver Müller am Mittwoch in Freiburg.

Russland war vor knapp einem Jahr – am 24. Februar 2022 – in die Ukraine einmarschiert und führt seitdem einen brutalen Angriffskrieg. 2021, also noch vor Beginn des Krieges, lebten dem Statistischen Bundesamt zufolge 41,4 Millionen Menschen in dem Land am östlichen Rand Europas. Weiterlesen

Putin: Russland setzt Abrüstungsvertrag «New Start» aus

Moskau (dpa) – Der russische Präsident Wladimir Putin hat die Aussetzung des letzten großen atomaren Abrüstungsvertrages mit den USA angekündigt. Es handele sich nicht um einen Ausstieg, sondern um eine Aussetzung des «New Start»-Vertrags, sagte der Kremlchef heute in Moskau in seiner Rede an die Nation.

Die Beziehungen zwischen den USA und Russland sind seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine vor einem Jahr auf einem absoluten Tiefpunkt angelangt.

Putin warf den USA ein «Theater des Absurden» vor – mit Blick darauf, dass Washington unlängst Moskau beschuldigt hatte, keine Experten zur Inspektion der atomaren Verteidigungsanlagen ins Land zu lassen. Wenn in Zeiten solcher Spannungen jemand im Westen ernsthaft erwarte, dass Russland diesen Zugang gewähre, sei das «Blödsinn», meinte Putin. Zugleich bekräftigte er, dass Russland den US-Experten den Zugang nicht gewähre, weil auch russische Inspektoren angesichts westlicher Sanktionen keine Möglichkeit zur Einreise in die USA hätten. Weiterlesen

Wie wird der Ukraine-Krieg enden?

Von Christoph Driessen, dpa

Berlin (dpa) – Einmal saßen sie sich schon an einem Tisch gegenüber, der russische Präsident Wladimir Putin und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. 2019 hatte der französische Staatschef Emmanuel Macron sie gemeinsam mit Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Paris eingeladen. Die Atmosphäre war angespannt.

In einem Interview für die vor wenigen Tagen ausgestrahlte BBC-Dokumentation «Putin vs the West» berichtete Selenskyj, er habe Putin damals beschworen, ihm zu vertrauen. «Ich lüge nie», habe er ihm versichert. Putin habe darauf irritiert reagiert und entgegnet: «Ich glaube nicht daran, dass man nie lügen kann.»

Wie wird der Ukraine-Krieg enden: Mit einem eindeutigen Sieg einer Seite auf dem Schlachtfeld? Nach endlosen Gesprächen am Verhandlungstisch? Oder gar, wie manche befürchten, in der Apokalypse eines Atomkriegs? Ein Forscher, der die Beilegung von Konflikten seit Jahrzehnten erforscht, ist der Niederländer Hein Goemans, Professor für internationale Politik an der University of Rochester in den USA. Seine Einschätzung: Falls die Ukraine vom Westen weiterhin mit Panzer-Nachschub versorgt wird und dazu auch noch Kampfflugzeuge bekommt, ist es möglich, dass die ukrainischen Streitkräfte große Teile der von Russland annektierten Gebiete zurückerobern. «Noch nicht dieses Jahr, aber nächstes Jahr vielleicht», sagt Goemans der Deutschen Presse-Agentur.

Irgendwo in der Nähe der russischen Grenze werde der Konflikt dann einfrieren. «Zuende wäre der Krieg dann immer noch nicht, aber es gäbe keine großen Feldschlachten mehr, es würde ab und zu hin- und hergeschossen.» Friedensverhandlungen hält Goemans erst dann für realistisch, wenn Russland einen anderen Präsidenten als Putin hat.

Auch Nicole Deitelhoff, Leiterin des Leibniz-Instituts für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main, kann sich vorstellen, dass der Konflikt mit der Zeit festläuft und eine nicht formalisierte Grenze entsteht. «Das kennen wir aus der Geschichte: Denken Sie an Nord- und Südkorea, aber auch an Ost- und Westdeutschland. Alles keine formalen Friedensschlüsse, keine akzeptierten Grenzen, sondern offen bleibende Konflikte, die ausgehalten werden müssen und bei denen man auf lange Sicht auf eine Einigung hofft. Das kann aber Jahrzehnte dauern.»

An Friedensverhandlungen glaubt Deitelhoff nicht, weil sich in ihren Augen sowohl Putin als auch Selenskyj jeden Verhandlungsspielraum genommen haben: Putin, indem er die eroberten Territorien in der Ostukraine zu russischem Staatsgebiet erklärt hat, und Selenskyj, indem er per Dekret festgelegt hat, nicht mit Putin zu verhandeln.

Goemans: Minimalforderungen bisher unvereinbar

Um den Ukraine-Krieg wirklich zu beenden, müsste nach Einschätzung von Goemans mindestens eine der beiden Kriegsparteien ihre Minimalforderungen ändern. Bisher sind die jeweiligen Minimalforderungen unvereinbar: Russland hat sich die besetzten Gebiete einverleibt und will sie auf jeden Fall behalten, die Ukraine will sie unbedingt zurück. Goemans ist davon überzeugt, dass Putin die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat, dass der Westen seine Hilfe für die Ukraine zurückfahren wird, weil die Belastungen auf Dauer zu groß sind. Aber selbst wenn Putin diese Hoffnung nicht mehr hätte, würde er den Krieg vermutlich fortsetzen, weil er glaube, sich eine Niederlage nicht leisten zu können.

Genauso schätzt es Deitelhoff ein: «Putin hat Geister geweckt, die er jetzt kaum noch in den Griff bekommt. Noch schlimmere Hardliner als er selbst nehmen ihm den Verhandlungsspielraum, weil sie immer noch härtere Schläge wie den Einsatz taktischer Atomwaffen fordern.» Die Gefahr einer Eskalation mit solchen «kleinen Atomwaffen» oder mit chemischen und biologischen Waffen bestehe vor allem, wenn sich Putin durch ukrainische Erfolge auf russischem Territorium in die Enge getrieben sehen würde.

Masala: Atomare Eskalation ist sehr unwahrscheinlich

Der Militärexperte Carlo Masala hingegen hält eine atomare Eskalation für sehr unwahrscheinlich. Würde Putin eine «kleine Atombombe» zünden, würde dies die Ukrainer mit Sicherheit nicht vom Weiterkämpfen abhalten, argumentiert Masala im dpa-Interview. Gleichzeitig würde Putin massive Gegenschläge des Westens provozieren – und hätte damit unterm Strich nichts gewonnen, sondern seine Lage noch verschlechtert.

Masala glaubt auch nicht, dass Selenskyj und Putin keinen Spielraum für Verhandlungen haben: «Militärisch lässt sich der Konflikt nicht in dem Sinne lösen, dass die ukrainische Armee den letzten russischen Soldaten von ukrainischem Territorium vertreibt. Das wird nicht funktionieren. Also von daher: Wenn es die Möglichkeit für Verhandlungen ohne russische Vorbedingungen gibt, ist Selenskyj derjenige, der auch am Verhandlungstisch sitzen wird.» Das gleiche gelte für Putin, sobald er zu der Überzeugung gelange, dass ihm eine Fortsetzung des Krieges mehr schade als nütze.

Die Frage, wie sich Putin verhalten wird, ist die große «Black Box» dieses Krieges – der Bereich, der sich der Analyse weitgehend entzieht, weil niemand in den Kopf des Kreml-Herrn hineinschauen kann. Gwendolyn Sasse, Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin, glaubt jedoch ebenso wie Masala: «Putin entscheidet selbst, ob er Spielraum für Verhandlungen hat oder nicht. Er kann derzeit noch verschiedene Kriegsausgänge als politische Figur überleben.»

Sasse: Putin könnte in Verhandlungen Zugeständnisse machen

Letztlich werde Putin das tun, wovon er sich am ehesten eine Erhaltung seines Machtsystems verspreche, meint Sasse. Das könne eine Eskalationsstrategie sein, um den Westen doch noch abzuschrecken, oder auch das Umschwenken auf Verhandlungen. «Es ist denkbar, dass russische Eliten irgendwann Druck auf ihn ausüben, den Krieg zu beenden, weil die Kosten zu hoch werden.» Putin könne in Verhandlungen durchaus auch Zugeständnisse an die Ukraine machen, indem er zum Beispiel annektierte Gebiete wieder abtrete, ohne damit seinen Sturz zu riskieren.

Für die russische Staatspropaganda wäre das nach Sasses Einschätzung kein unüberwindliches Hindernis. «Man könnte immer behaupten, dass man zum Beispiel das Wichtigste erreicht hat oder alles nur vorläufig ist. Wir dürfen nicht den Fehler machen zu glauben, dass der Großteil der Bevölkerung und der politischen Eliten Putin daran misst, ob er Saporischschja und Cherson wirklich voll ins Land integrieren kann. Viel wichtiger für die Bevölkerung wäre das Signal, dass man sich nicht mehr sorgen muss, zum Militärdienst an der Front eingezogen zu werden.» Und davon abgesehen: Putin müsse sowieso nur auf die Eliten Rücksicht nehmen. «Von der Bevölkerung geht für ihn momentan keine Gefahr aus.»

So unterschiedlich die Prognosen der Expertinnen und Experten im Einzelnen auch ausfallen, in einem sind sie sich einig: Der Krieg wird noch sehr lange dauern und deshalb auch Deutschland noch sehr lange und sehr direkt betreffen. «Es ist ein großer europäischer Krieg», sagt Hein Goemans. «Ein Krieg, von dem wir dachten, dass wir ihn in dieser Form nie mehr erleben würden.»

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