Weshalb Autobauer beim Angebot knausern

Von Jan Petermann, dpa

Hannover/Berlin (dpa) – Klein- und Kleinstwagen brauchen weniger Platz, könnten den städtischen Autoverkehr effizienter machen und die Belastung des Klimas verringern. Manche Hersteller halten am Segment fest – andere setzen auf gewinnträchtigere Modelle. Offiziell sieht die deutsche Branche weiter Chancen auch bei Minis und Kleinen, vor allem mit E-Motor. Fachleute sprechen aber von einem ausgedünnten Angebot, und das eigene Fahrzeug könnte zum Luxusprodukt werden. Die Ursachen und möglichen Folgen des Trends sind vielfältig.

Der Stand Ende 2022

In Deutschland waren die Neuzulassungen nach Daten des Kraftfahrt-Bundesamts im Dezember außer bei Minivans und Wohnmobilen nur bei Kleinwagen rückläufig. Sie nahmen verglichen mit dem Vorjahresmonat um 4,1 Prozent ab. Der Anteil lag bei 9,6 Prozent. Beliebtestes Modell war der Opel Corsa. Den Kleinstwagen oder Minis, wo der Fiat 500 führte, gelang ein Plus von 15,7 Prozent – aber bei anteilig nur 7,1 Prozent aller neu auf die Straße gekommenen Pkw. Die boomenden SUVs erzielten 34 Prozent.

Betrachtet man die Sparten Klein- und Kleinstwagen gemeinsam, wird die langjährige Tendenz deutlich: Zwischen 2012 und 2022 sank der Gesamtanteil von fast 24 auf knapp über 18 Prozent, wie auch das «Handelsblatt» jüngst berichtete. Der Branchenverband VDA bewertet die Lage dennoch positiv. An Kleinwagen habe es im abgelaufenen Jahr bis kurz vor Ende bundesweit über 420.000 neuzugelassene Exemplare gegeben, zu fast einem Drittel mit E-Antrieb.

Eine Folgerung der Autolobby: «In Deutschland ist insbesondere bei batterieelektrischen Pkw der Anteil von Klein- und Kleinstwagen sehr hoch.» Seitdem die E-Mobilität auch dank der staatlich-industriellen Zuschüsse Fahrt aufgenommen habe, gewännen kleine, kompakte Fahrzeuge sogar eher an Bedeutung. Jedoch muss man das in Relation zu anderen Segmenten wie SUVs oder Gelände- und Sportwagen sehen – und die Zukunft der Förderung von E-Autos steht auf wackligen Füßen.

Große Modelle bringen mehr Geld

Wer ein Hochpreis-Auto teuer verkaufen kann, streicht gegenüber kleineren Autos meist mehr Gewinn ein. Denn die Produktionskosten steigen – bezogen auf die Kleinen – nicht im selben Maß wie der Endpreis. Diese betriebswirtschaftliche Regel ist simpel. Sie könnte aber dazu führen, dass das Angebot an Stadtflitzern und Kurzstreckenwagen weiter geschmälert wird, weil große Autos renditestärker sind. Die Ertragsmargen – also der Anteil des Umsatzes, der in der Kasse bleibt – sind bei vielen marktreifen SUVs, Limousinen oder Oberklassemodellen attraktiver.

Mit den Kleinen verdienen Hersteller nur dann gut, wenn diese sehr hohe Absatzzahlen erreichen. Doch die Zahl angebotener Baureihen schrumpft. Bei den Minis halbierte sie sich auf dem deutschen Markt binnen eines Jahrzehnts von 24 auf 12. Autos wie der Ford Ka, Opel Adam oder Citroën C1 liefen aus. Das trifft auch diejenigen Kleistwagen-Baureihen, die mit Verbrennern unterwegs sind – die Zeitschrift «Auto Straßenverkehr» zählte hier von 2017 bis 2022 einen Rückgang von 17 auf 8.

Weniger deutsche Klein(st)wagen-Kompetenz?

Das Fachblatt weist darauf hin, dass abgesehen von VW nun alle anderen Mini-Reihen etwa mit Fiat, Renault, Hyundai/Kia, Toyota oder Suzuki aus dem Ausland kommen. Zuletzt war auch der VW Up nicht mehr als Verbrenner zu bestellen. Im Konfigurator erschien nur noch dessen E-Variante – wie lange sie dort bleibt, gilt nach früheren Bestellstopps als unsicher. Die Situation werde wohl «ähnlich knapp wie im letzten Jahr», heißt es aus Wolfsburg. Die Wartezeiten waren wegen der Chipkrise so lang geworden, dass der kleinste Stromer zeitweise aus dem Programm fiel.

Auch andere Anbieter tun sich schwer. Bei BMW kam der kompakte E-Pionier i3 schon 2013 auf dem Markt, wurde aber wenig nachgefragt. Erst Anfang 2020 legte der Konzern mit dem elektrischen Mini und vor wenigen Monaten mit dem iX1 nach – einem Klein-SUV. Bei Renault sieht Chef Luca de Meo für den Twingo keine direkte Fortsetzung. Und Ford Deutschland stellt die Produktion des Fiestas in Köln vorzeitig ein.

«Die SUVisierung ist weltweit erkennbar», sagt Stefan Bratzel vom Center of Automotive Management in Bergisch Gladbach. «In der Oberklasse bleibt der Verkaufstrend stark – die Marktanteile dürften sich weiter von unten nach oben verschieben.» Kollege Benedikt Maier vom Institut für Automobilwirtschaft in Geislingen erklärt: «In Zeiten von Rohstoffengpässen ist es eine logische unternehmerische Entscheidung, in erster Linie die margenstarken Produkte zu bringen.»

Steigende Preise und das Warten aufs Auto

Die enorme Verteuerung von Energie und Metallrohstoffen seit Beginn des Ukraine-Kriegs und von Elektronik-Bauteilen seit der Corona-Krise ist ein Teil dieser Geschichte. «Die üblichen Preiserhöhungen der Hersteller erfolgten zuletzt in kürzeren Intervallen und in höherem Ausmaß», sagt Maier. Das geringere Angebot habe die Kosten für Einstiegsmodelle anziehen lassen. Dabei richten sich die Kleinen gerade an Haushalte, die nicht viel auf der hohen Kante haben, Nutzer von Zweitfahrzeugen oder Liefer- und Pflegedienste. Für ihre Dickschiffe reservierte die Branche hingegen oft und gern die erhältlichen Chipkontingente.

Der VDA sieht bei der Elektronik große Herausforderungen. «Deshalb kann es bei einzelnen Modellen zu einer Verlängerung der Lieferzeiten kommen.» Maier indes glaubt, dass für zentrale Batterie-Ressourcen wie Lithium und Kobalt einstweilen keine nennenswerte Entspannung zu erwarten ist. Dabei schlage «der relative Kostenblock einer Batterie bei Kleinwagen stärker zu Buche als in der Oberklasse».

Bei einigen VW-Händlern sorgt man sich um die künftigen Verkäufe. Eine hohe Führungskraft des zweitgrößten Autokonzerns sagte im Herbst: «Porsche, Audi oder Bentley wurden so bedient, wie sie es gebraucht haben. Dafür haben wir ein paar (VW) Polos, (Skoda) Fabias und (Seat) Ibizas weniger gebaut.» Die Chip-Verfügbarkeit habe sich inzwischen aber verbessert. 2025 soll ein E-Kleinwagen in Polo-Größe (ID.2) bei 25.000 Euro starten. «Wenn es so bleibt, lösen sich Polo und ID.2 nahtlos ab», gibt man sich im Moment zuversichtlich.

Entwicklungsbudgets und nötiges Volumen

Bis ein neu konzipiertes Massenmodell profitabel wird, vergehen oft Jahre. Zudem sind neue Technologien anfangs im oberen Segment wettbewerbsfähiger, solange sie noch relativ teuer sind. Für den späteren Durchbruch sind sogenannte Skaleneffekte wichtig – die Fähigkeit, über schiere Menge die Kosten so weit zu drücken, dass auch niedrigere Verkaufspreise Gewinn abwerfen. Der VDA erklärt: «Durch Skaleneffekte werden die Modelle in Zukunft günstiger werden.» Maier ist nicht so überzeugt: «Ich gehe nicht davon aus, dass die etablierten deutschen Hersteller mittelfristig aktiv das Klein(st)wagen-Segment erschließen wollen oder gar mit “Budget Car”-Konzepten aufschlagen werden.»

Die Kleinen und das Klima

Sparsamere Verbrenner stoßen weniger CO2 aus. Bei kleinen E-Modellen soll der geringere Ressourcenverbrauch die Klimalast drücken. Voraussetzung ist, dass die Batterie mit Ökostrom geladen wird – und beim Ausbau der erneuerbaren Energien drängen Klimaschützer die Bundesregierung zu deutlich mehr Tempo. Viele kritisierten in der Chipkrise, kleine E-Autos hätten Nachteile gegenüber großen. Volkswagens Pläne, die 2020 gestartete ID-Reihe nach unten auszuweiten, lobte selbst die sonst skeptisch eingestellte Umweltschutzorganisation Greenpeace. Warum ausgerechnet der VW E-Up und auch kleine Stromer anderer Hersteller vorher nicht mit Priorität bedacht werden, irritierte Verkehrsexperte Benjamin Stephan aber.

Die Euro-7-Pläne der EU

Andererseits betonen die Unternehmen, dass die verschärfte Verbrenner-Abgasnorm Euro-7 die Kosten gerade kleiner Modelle erhöhen und diese unattraktiver machen dürfte. «Der Preisanstieg, der aus den angeforderten Weiterentwicklungen entsteht, wird insbesondere Kleinwagen betreffen», warnt der VDA. Allzu ehrgeizig gemeinte Reinigungstechnik falle bei den Kleinen relativ gesehen stärker ins Gewicht. Der Vertreter eines großen Herstellers bemängelt «fehlende Planbarkeit» für die kommenden Jahre.

Einstiegsmodelle contra Autos für Besserverdiener

Viele Hersteller beteuern, man brauche weiter Modelle zur Hinführung an bestimmte Marken. Auch weil das «geteilte» Auto über Abo-Ansätze beliebter werde, ließen sich hohe Neuwagenpreise teils ausbalancieren. Bratzel sieht jedoch die Gefahr, dass die allgemeine Inflation billige Wagen per se verdängen könnte: «Die soziale Dimension von Auto-Mobilität muss mehr diskutiert werden. Ich nehme schon wahr, dass das Thema in Schichten mit weniger Geld emotional wahrgenommen wird. Wir müssen aufpassen, dass das nicht auch klimapolitisch nach hinten losgeht.»

Weiterlesen

Autobauer treiben eigene E-Ladenetze voran

Von David Hutzler und Roland Losch, dpa

Stuttgart (dpa) – Der Ausbau des E-Ladenetzes hinkt der wachsenden Zahl von Elektroautos weiter hinterher. Kamen etwa Anfang 2021 noch 14 E-Autos auf einen Ladepunkt, waren es nach Angaben des Verbands der Automobilindustrie (VDA) zuletzt 23.

Zwar will die Bundesregierung gegensteuern – etliche Autobauer wollen sich aber nicht nur auf die Politik verlassen und treiben den Aufbau der Ladeinfrastruktur selbst mit voran. Am Donnerstag kündigte auch Mercedes-Benz ein eigenes Netz mit weltweit 10.000 Ladepunkten bis Ende des Jahrzehnts an. Einen einstelligen Milliardenbetrag wollen die Stuttgarter investieren.

«Wir wollen nicht zusehen und abwarten, bis es gebaut ist. Daher errichten wir selbst ein globales Schnellladenetzwerk», sagte Mercedes-Chef Ola Källenius. Man habe zunächst gedacht, dass andere Player wie Energieunternehmen den Bedarf decken würden, sagte Technikchef Markus Schäfer. «Aber das ist nicht passiert.»

Zum Vergleich: Der US-Autobauer Tesla betreibt nach eigenen Angaben 40.000 Hochleistungs-Ladestationen weltweit – der Großteil davon ist aber im Vergleich zu Mercedes der eigenen Kundschaft vorbehalten. Der VW-Konzern will bis Ende 2025 mit Partnern weltweit gut 45.000 Schnellladepunkte einrichten.

Zahl der Ladestationen bislang unklar

Wie viele Ladepunkte konkret in Deutschland entstehen werden, teilte Mercedes nicht mit. Klar ist aber: Für die weltweiten Ausbauziele – alleine die Bundesregierung will eine Million öffentlich zugängliche Stecker bis 2030 – sind die Pläne der Stuttgarter allenfalls ein Tropfen auf dem heißen Stein. Daraus machte Källenius im Gespräch mit Journalisten auch keinen Hehl. Vielmehr gehe es darum, weitere Mercedes-Kunden zu locken. Sie sollen etwa von der bevorzugten Nutzung mittels Reservierung profitieren.

Weitaus größer sind die Ladenetze, die sich die Autokonzerne mittels Kooperationen gesichert haben. Für Mercedes-Fahrer stünden etwa eine Million Ladepunkte weltweit zur Verfügung, sagte Källenius. Das auf eine BMW-Initiative zurückgehende Digital Charging Solutions-Netz (DCS), an dem auch Mercedes und der Ölkonzern BP beteiligt sind, kommt nach eigenen Angaben auf über 400.000 Ladepunkte in Europa in Japan. Mercedes betreibt unter anderem gemeinsam mit BMW, VW, Ford und Hyundai das Konsortium Ionity, das in Deutschland bislang 480 Schnellladesäulen mit bis zu 350 Kilowatt Ladeleistung errichtet hat.

Auch der paneuropäische Autobauer Stellantis hat 2021 in Italien mit dem Aufbau seines Schnellladenetzes begonnen. Neben dem auf Südeuropa beschränkten Projekt Atlante gibt es eine Kooperation mit dem Anbieter TheF Charging, bis 2025 ein Netz mit mehr als 15.000 Standorten und zwei Millionen Stellplätzen aufzubauen.

Muss die Industrie die Fehler der Politik ausbügeln?

Hat die Politik den Ausbau der Ladeinfrastruktur in den vergangenen Jahren also so sehr verschlafen, dass die Autoindustrie den einzigen Ausweg in der Eigeninitiative sieht? VDA-Präsidentin Hildegard Müller formuliert es so: «Der Ausbau der Ladeinfrastruktur ist eine Gemeinschaftsaufgabe, die nur gelingen kann, wenn alle Akteure diese tragen und Verantwortung übernehmen.» Jeder müsse seinen Beitrag leisten – und dabei sei natürlich auch die Autoindustrie engagiert.

Dabei zeigt der Blick auf die Zahlen, dass die Ziele der Regierung noch in weiter Ferne liegen. Laut Daten der Bundesnetzagentur von Anfang November 2022 wuchs die Zahl der Ladepunkte binnen eines Jahres um rund 17.000 auf insgesamt 72.000. Ginge es in diesem Tempo weiter, wäre das Ziel von einer Million Ladepunkte rein rechnerisch erst im Jahr 2077 erreicht. Um schneller zu werden, beschloss das Kabinett im Oktober einen «Masterplan Ladeinfrastruktur» und will dafür 6,3 Milliarden Euro in die Hand nehmen. Das zeige zumindest, dass sich die Bundesregierung der Herkulesaufgabe bewusst sei, hieß es vom ADAC.

ADAC bewertet Ausbautempo positiv

Das Ausbautempo 2022 bewertete der Automobilclub vergleichsweise positiv. Immerhin habe die Zahl der Ladepunkte im vergangenen Jahr einigermaßen mit der Zahl der neu zugelassenen E-Autos Schritt gehalten, lobte auch VDA-Chefin Müller. Aber: «Das Angebot müsste der Nachfrage vorauseilen, damit das Vertrauen der Menschen in die E-Mobilität weiter wachsen kann.» Davon sei Deutschland noch weit entfernt. Vor allem bei den Schnellladern müsse es daher mit hohem Tempo weiter vorangehen.

Für Deutschland zählt die Bundesnetzagentur bislang rund 12.000 solcher Stecker, die ab einer Ladeleistung von mehr als 22 Kilowatt als Schnellladepunkte definiert sind. Rund ein Viertel davon erreicht die höchste Leistungsklasse von über 300 Kilowatt. In diese Bereiche will auch Mercedes mit seiner neuen Infrastruktur vorstoßen. Eine Batterie könne so von 10 auf 80 Prozent in rund einer halben Stunde geladen werden. «Wir werden das noch signifikant verkürzen», kündigte Technikchef Schäfer auf der Technik-Messe CES in Las Vegas an. Mit besserer Ladeinfrastruktur werde die Elektroauto-Akzeptanz steigen.

Der Karlsruher Energiekonzern EnBW etwa schätzt, dass es bis 2030 bundesweit etwa 130.000 bis 150.000 Schnellladepunkte – und nicht eine Million überwiegend langsame normale Ladepunkte – brauche, um die von der Bundesregierung angepeilten 15 Millionen Elektroautos zu versorgen. Rund 30.000 davon will EnBW selbst bauen. Schon heute betreibt der Konzern mit 2800 Ladepunkten das nach eigenen Angaben größte Schnellladenetz Deutschlands.

Die Ausbauzahlen sind das eine – aber wie sieht es angesichts der zig Anbieter mit der Nutzerfreundlichkeit aus? Der ADAC beklagte, dass ein E-Autofahrer schnell den Überblick verlieren kann. Mal brauche er eine Ladekarte, mal eine App. An dieser Säule zahle er per Smartphone, an der anderen per Rechnung zum Monatsende. Einige Anbieter verlangen eine Grundgebühr, einige ab einer gewissen Standzeit an der Ladesäule einen Aufschlag pro Minute. Es bleibt also noch einiges zu tun auf dem Weg in die vollelektrische Mobilität.

Weiterlesen

Musk will erst einmal keine weiteren Tesla-Aktien verkaufen

New York (dpa) – Tesla-Chef Elon Musk hat versprochen, im kommenden Jahr keine weiteren Aktien des Elektroautobauers zu verkaufen. Und auch 2024 werde es wahrscheinlich keine weiteren Verkäufe mehr geben, sagte Musk bei einem Live-Konferenz-Angebot («Spaces») des Kurznachrichtendiensts Twitter, der Musk seit Kurzem gehört, am späten Donnerstagabend. Der umstrittene Konzernlenker hatte zuletzt Tesla-Aktien für fast 40 Milliarden Dollar verkauft. Die Einnahmen dienten vor allem der Finanzierung der 44 Milliarden Dollar teuren Twitter-Übernahme. Musk ist derzeit auch noch Twitter-Chef, hat hier aber den Rückzug angekündigt. Weiterlesen

Mittelmaß im Reich der Mitte: Autobauer in China unter Druck

Von David Hutzler, Jan Petermann und Roland Losch, dpa

Stuttgart/Wolfsburg/München (dpa) – Würde man die deutsche Autobranche und ihren wichtigsten Absatzmarkt China als Liebespaar beschreiben, stünde dort als Beziehungsstatus wohl zumindest: Es ist kompliziert. Lange Lockdown-Politik, Chipmangel, dazu kommen nicht erst seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine die deutschen Diskussionen über zu hohe Abhängigkeit von einzelnen Märkten. Gleichzeitig geraten die deutschen Hersteller bei wichtigen Technologien immer mehr ins Hintertreffen, verlieren Marktanteile oder müssen – wie jüngst Mercedes-Benz – ihre Preise deutlich senken.

Wie sich das in Zahlen ausdrückt, hat der Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer berechnet. Während der Markt in China in den ersten neun Monaten des laufenden Jahres im Vergleich zum Vorjahreszeitraum insgesamt um knapp 15 Prozent zulegen konnte, haben die deutschen Anbieter ordentlich Federn gelassen. Sowohl die VW-Konzernmarken als auch BMW/Mini und die Autosparte von Mercedes-Benz setzten weniger Wagen ab als von Januar bis September 2021. Der Marktanteil von VW schrumpfte von 17,5 auf 14,1 Prozent, bei Mercedes ging es von 4,1 auf 3,4 Prozent nach unten, bei BMW von 4,6 auf 3,5 Prozent.

«Das Wettbewerbsumfeld ist deutlich gestiegen, und die Produkte der Deutschen haben ein Stück weit Glanz verloren», sagt der Leiter des Center Automotive Research (CAR). Im Batteriegeschäft seien die Deutschen gerade einmal im Mittelfeld – batterieelektrische Fahrzeuge in China würden vom US-Konzern Tesla oder von den chinesischen Herstellern BYD oder Nio gemacht. Und auch bei den in China beliebten Softwarefunktionen hinkten die Hersteller aus Deutschland hinterher.

Chinesische Verbraucher haben speziellen Geschmack

Volkswagen und Audi beispielsweise hatten auf ihrem mit Abstand wichtigsten Markt bei manchen Modellen Probleme, den Geschmack der Kundschaft präzise zu treffen. Obwohl sich die Zahlen zuletzt wieder besser entwickelten, vermissten chinesische Verbraucher etwa spezielle Bord-Software und Entertainment-Funktionen, die unter heimischen Anbietern oft Standard sind. Bei solcher Ausstattung gebe es klaren Nachholbedarf, heißt es bei hohen Entscheidern in Wolfsburg: «Es gibt die Erwartung, dass Elektromobilität als etwas Cooles, Modernes, Zukunftsorientiertes präsentiert wird.» Dazu gehöre das Ziel, mehr vor Ort zu entwickeln, um diesen Ansprüchen besser nachzukommen.

Die Verkäufe der VW-Gruppe im Reich der Mitte waren zum Halbjahr gegenüber den ersten sechs Monaten 2021 um ein Fünftel eingebrochen. Im Oktober konnte die Gruppe in China immerhin schon 11,3 Prozent mehr Fahrzeuge loswerden als vor einem Jahr – über die gesamte Strecke seit Januar lag sie allerdings noch um 5,9 Prozent im Minus. VW will 2022 wieder auf Absatzzahlen wie vor der Corona-Krise kommen. Insbesondere die Auslieferungen der zunächst unter den Erwartungen angelaufenen elektrischen ID-Reihe sollen weiter zunehmen.

Auch BMW hat in China große Pläne. Bis 2030 wollen die Münchner über die Hälfte ihrer vollelektrischen Autos dort verkaufen. Im Februar übernahmen sie die Mehrheit am chinesischen Gemeinschaftsunternehmen BMW Brilliance Automotive (BBA), im Juni kam am weltweit größten BMW-Standort Shenyang ein weiteres Werk vor allem für E-Autos hinzu. Beim Absatz lag BMW in den ersten neun Monaten deutlich unter dem Vorjahreswert, zuletzt gingen die Zahlen wieder nach oben.

Mercedes legte bei den Verkäufen in China von Juli bis September ebenfalls wieder deutlich zu. Allerdings haben die Stuttgarter auch für ihr sehr teures E-Modell EQS an der Preisschraube drehen müssen. Von über 30.000 Euro Nachlass war die Rede, Produktionschef Jörg Burzer sprach von leichten Anpassungen. Aber: Der EQS sei immer noch das teuerste E-Auto auf Chinas Markt.

Licht und Schatten für die deutschen Autobauer

So langsam scheinen die Deutschen also zumindest wieder insgesamt mehr verkaufen zu können. Für Dudenhöffer ist das aber kein Grund, sich zurückzulehnen. Beim autonomen Fahren drohe man weiteren Boden zu verlieren: Während in chinesischen Großstädten schon Robotaxis unterwegs seien, werde das Thema in Deutschland an vielen Ecken eingekürzt – «weil man derzeit nicht sieht, wie man Geld damit verdienen kann». Ein Beispiel sei das beendete Projekt von Argo AI, VW und Ford. «Damit gibt man den Chinesen die besten Chancen, einen Wettbewerbsvorteil auszubauen, der die wirklich überlegen macht.»

Andere Entwicklungen seien hingegen positiv. BMW etwa sei bei der Elektromobilität sehr dynamisch unterwegs. Volkswagen sei bemüht, die Fehler der Vergangenheit zu beheben. Die Software-Sparte Cariad betreibt inzwischen eine eigene Niederlassung in China, sie soll dort alltagstaugliche Technologien für das automatisierte und autonome Fahren vorbereiten. VW kündigte auch ein Joint-Venture mit dem auf künstliche Intelligenz spezialisierten Unternehmen Horizon Robotics an. Das wertet Dudenhöffer als wichtigen Schritt: Die Chips von Horizon Robotics seien führend und hätten genug Rechenpower, um das automatisierte und autonome Fahren vollständig möglich zu machen.

Licht und Schatten also für die deutschen Autobauer in China und eine Aufgabe, die zwar schwierig, aber lösbar erscheint. Die Lockdowns haben jedoch nicht nur Autobauern, sondern der gesamten deutschen Industrie schmerzliche Hinweise darauf gegeben, was es bedeutet, zu stark von einem Einzelmarkt abhängig zu sein. Die Bundesregierung hat mit ihren Vorbehalten gegenüber chinesischen Investitionen in Deutschland Hinweise auf ihre neue Haltung zum Reich der Mitte gegeben. Und das Säbelrasseln Pekings in Richtung Taiwan bringt die Frage auf den Tisch: Was wäre, wenn?

Sollte der chinesische Markt plötzlich wegbrechen, sind die Folgen für die deutschen Autobauer für Dudenhöffer klar: «Dann kann man die wegschmeißen.» China mache 40 Prozent des Absatzes und 50 bis 60 Prozent des Profits aus. Gehe das verloren, werde der Stellantis-Konzern den Markt in Europa machen. «Wir würden bei unserer Industrie die Kostenvorteile und die lukrativsten Märkte über Nacht verlieren und uns vom technischen Fortschritt abschneiden. Das wäre das langfristige Sterben der deutschen Autoindustrie.»

Weiterlesen

E-Fuel-Anlage in Chile – Mit starkem Wind zu grünem Benzin

Von Denis Düttmann, dpa

Punta Arenas (dpa) – An der Südspitze von Chile bläst eine steife Brise. Der starke Wind fegt über die Weiden Patagoniens hinweg, zerrt an den Sträuchern und wühlt das Meer auf. Jetzt sollen die Böen auch ihren Beitrag im Kampf gegen den Klimawandel leisten. Siemens Energy und der Autohersteller Porsche haben am Dienstag nahe der Stadt Punta Arenas eine Fabrik für CO2-neutralen Kraftstoff (E-Fuel) eröffnet. «Das ist nur der Anfang einer neuen Ära», sagte der Porsche-Entwicklungsvorstand Michael Steiner. «Diese Fabrik ist ein Meilenstein.»

Die Anlage Haru Oni bei Punta Arenas ist nach Angaben der Unternehmen weltweit die erste Anlage zur industriellen Herstellung von E-Fuel. Beteiligt sind an der Fabrik auch die Unternehmen HIF, Exxon Mobil, Enel, Enap und Gasco.

Bei dem Projekt wird mit Windstrom CO2-neutraler Kraftstoff erzeugt. Per Elektrolyse wird mit dem erneuerbaren Strom zunächst Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff gespalten. Anschließend wird CO2 aus der Luft gefiltert und mit dem Wasserstoff über den Zwischenschritt Methanol zu E-Fuel umgewandelt.

«Power to Fuel»-Verfahren im Einsatz

Die Grundidee ist, dass diese Kraftstoffe verglichen mit normalem Benzin, Diesel oder Autogas den Rohstoffkreislauf weniger belasten und kein neues, vorher langfristig gebundenes CO2 freisetzen sollen. «Power to Fuel»-Verfahren gewinnen den Sprit nicht aus der chemischen Veredelung von Rohöl, das Jahrmillionen im Boden lagerte und bei der Verbrennung den Kohlenstoffgehalt der Atmosphäre erhöht. Quasi umgekehrt bauen sie stattdessen Kohlenwasserstoff-Ketten etwa aus Wasserstoff (H2) und CO2 zusammen. Dafür braucht man jedoch H2 in Reinform, wozu Wasser energieintensiv gespalten werden muss. Wenn – und nur wenn – dabei Ökostrom ohne ergänzende CO2-Last zum Einsatz kommt, kann der Kunstsprit geeignete Motoren klimaneutral antreiben: Frei wird nur so viel CO2, wie aus Luft oder Biomasse geholt wurde.

In der Pilotphase in Chile werden mit einer Windturbine mit 3,4 Megawatt Leistung erst einmal nur 130.000 Liter pro Jahr hergestellt. Porsche nimmt die gesamte Menge ab und will den Treibstoff zunächst im Motorsport, bei Probefahrten mit Kunden und für die Betankung von Oldtimern einsetzen. 70 Prozent aller jemals gebauten Porsche-Fahrzeuge sind noch immer auf der Straße. «Wir wollen den Fahrern die Möglichkeit geben, ohne schlechtes Gewissen ihre Fahrzeuge weiter zu betreiben», sagte Steiner.

In den kommenden Jahren soll die Kapazität deutlich gesteigert werden. Schon in der nächsten Ausbaustufe werden 40 Windräder die Energie für die Herstellung von E-Fuel liefern. Bis 2025 sollen etwa 55 Millionen Liter jährlich hergestellt werden und bis 2027 rund 550 Millionen Liter.

Methanol als Grundstoff

Künftig könnte E-Fuel dann auch in größerem Maßstab direkt als grüner Treibstoff oder als Beimischung zu herkömmlichem Benzin zum Einsatz kommen. Ob sich das wirtschaftlich rechnet, hängt nach Einschätzung von Porsche vor allem vom Gesetzgeber ab. Sollte die Beimischung von klimaneutralem Treibstoff verpflichtend werden oder steuerlich stark begünstig werden, könnte E-Fuel trotz eines Herstellungspreises von derzeit etwa zwei US-Dollar pro Liter attraktiv werden.

Die Betreiber der Pilotanlage haben sich eine Hintertür aufgehalten, sollte die Nachfrage nach E-Fuel nicht anziehen. Die Fabrik stellt in einem ersten Schritt Methanol her, das auch anderweitig vertrieben werden kann. «Mit Methanol haben wir einen Grundstoff, den man schon direkt als Treibstoff für Schiffe nutzen kann. Außerdem kann man daraus auch Kerosin herstellen, denn gerade im Flugverkehr wird es auf lange Sicht sehr schwer, das Kerosin durch Elektrifizierung zu ersetzen», sagte Markus Speith von Siemens Energy. «Diese Flexibilität wollten wir uns erhalten.»

Die E-Fuel-Technologie steht immer wieder wegen des geringen Wirkungsgrads im Gegensatz zur direkten Elektrifizierung von Autos in der Kritik. Während in Elektroautos zwischen 70 bis 80 Prozent der Ausgangs-Energie am Rad ankommen, sind es bei E-Fuel in der industriellen Fertigung nur etwas mehr als 40 Prozent.

Wind im Überfluss

«Die Effizienz ist gar nicht so entscheidend. Ohne uns würde der Wind hier gar nicht genutzt», sagte Rolf Schumacher von der Betreibergesellschaft der Anlage, HIF Global. Im Süden von Chile ist Wind im Überfluss vorhanden, zudem laufen die Anlagen dort wesentlich häufiger unter Volllast und produzieren in etwa dreimal soviel Energie wie vergleichbare Windräder in Deutschland.

Für Porsche ist die Investition in E-Fuel keine Alternative zum Elektroauto, sondern eine Ergänzung. «Wir halten daran fest, bis 2030 rund 80 Prozent der Neufahrzeuge zu elektrifizieren», sagte die Porsche-Beschaffungs-Vorständin Barbara Frenkel. «Mit E-Fuel wollen wir zur Dekarbonisierung der Bestandsflotte beitragen.»

Im Süden von Chile hoffen die Menschen auf eine neue Wachstumsindustrie in der strukturschwachen Region. «Vor genau 77 Jahren wurde hier erstmals Öl entdeckt», sagte der Bürgermeister von Punta Arenas, Claudio Radonich. «Jetzt hat sich das Paradigma geändert. Früher stand das Öl für Wohlstand, jetzt der Wind.»

Weiterlesen

Erste Million reine Elektro-Pkw in Reichweite

Duisburg/München (dpa) – Der Bestand an reinen Elektro-Pkw auf deutschen Straßen nähert sich einer Million. Der Wert könnte Anfang 2023 erreicht werden, wie Modellrechnungen des Branchenexperten Ferdinand Dudenhöffer ergeben, im Falle eines extremen Zulassungsschubs sogar noch im Dezember. Dieses sei aber eher unwahrscheinlich, sagte er der Deutschen Presse-Agentur.

Zum 1. Oktober lag der Bestand an batteriebetriebenen Elektro-Personenwagen laut Kraftfahrtbundesamt bei 840.645. Im November und Oktober wurden knapp 94.761 weitere neu zugelassen. Doch zugleich gibt es auch Abmeldungen, wie Dudenhöffer berichtete, unter anderem durch den Verkauf ins Ausland, aber auch nach Totalschäden. Im dritten Quartal verschwanden rund 21.000 Autos aus dem Bestand. Bei einer ähnlichen Größenordnung im vierten Quartal müssten im Dezember mehr als 86.000 reine Elektroautos neu zugelassen werden, um die Millionengrenze zu knacken – das wäre fast das Doppelte des bereits sehr starken Vorjahreswertes. Weiterlesen

Umwelthilfe fordert deutlich teureres Anwohnerparken

Berlin (dpa) – Mehr als zwei Jahre nach einer entsprechenden Gesetzesänderung können die Menschen in den meisten deutschen Großstädten weiterhin für rund 30 Euro im Jahr ihr Auto parken. «88 Städte verlangen nach wie vor nur 8 Cent oder weniger pro Tag für einen Anwohnerparkausweis – obwohl zwei Drittel davon durch ihre Landesregierung ermächtigt sind, angemessene Gebühren festzulegen», teilte die Deutsche Umwelthilfe der Deutschen Presse-Agentur mit.

Die DUH hat die Gebühren für das Anwohnerparken in 104 Städten aufgelistet, darunter sind alle Großstädte sowie jeweils die fünf größten Städte jedes Bundeslandes. Nur 13 der abgefragten Städte hätten die Gebühren für Anwohnerparkausweise erhöht, seit Bund und Länder dies ermöglicht haben. Die Umwelthilfe spricht von einer «absurden Subventionierung des Privatautos auf Kosten der klimafreundlichen Mobilitätswende». Weiterlesen

Porsche in Dax aufgenommen

Frankfurt/M. (dpa) – Der Sportwagenbauer Porsche ist am Montagmorgen in den Dax aufgenommen worden. Das symbolische Glockenläuten zu Handelsbeginn verzögerte sich jedoch, da das Flugzeug mit den Porsche-Chefs aus Wettergründen nicht starten konnte, wie ein Unternehmenssprecher mitteilte. Die Veranstaltung zur Aufnahme in den deutschen Leitindex sollte nach Angaben eines Börsensprechers zur Mittagszeit nachgeholt werden.

Der schnelle Einstieg in den Dax mache Porsche «glücklich und stolz», sagte Vorstandschef Oliver Blume laut einer Mitteilung. Weltweit seien Investoren vom Geschäftsmodell des Unternehmens überzeugt. Weiterlesen

«Avatar»-Star Worthington: Auto statt Wohnung

Los Angeles (dpa) – Dem australischen Schauspieler Sam Worthington war das Leben in Sydney über den Kopf gewachsen, bevor er die Hauptrolle im ersten «Avatar»-Film bekam. «Ich habe alles, was ich besaß, meinen Freunden verkauft, weil ich die Person, die ich war, nicht mochte», sagte der 46-Jährige dem US-Magazin «Variety». «Ich musste verdammt nochmal raus. Ich lebte in Sydney und wann immer ich in eine Bar ging, erkannten mich Menschen. Dagegen rebellierte ich.» Weiterlesen

VW-Aktionäre sollen Porsche-Börsengang absegnen

Berlin/Wolfsburg/Stuttgart (dpa) – Der Börsengang von Porsche beschäftigt die Aktionäre des Mutterkonzerns Volkswagen heute noch einmal auf einer außerordentlichen Hauptversammlung. Bei dem Treffen in Berlin sollen die Anteilseigner den seit dem Herbst laufenden öffentlichen Handel mit einem Teil der stimmrechtslosen Porsche-Vorzugsaktien rückwirkend auch offiziell beschließen.

Zudem steht die Entscheidung über die angekündigte Sonderdividende auf der Tagesordnung. Deren Höhe und den vorgeschlagenen Auszahlungszeitpunkt kritisierten manche der kleineren Eigentümer vor der Sitzung bereits. Weiterlesen

Lichter überstrahlen Krise: Russland spürt die Sanktionen

Von André Ballin und Ulf Mauder, dpa

Moskau (dpa) – Der Einkaufsspaß ist vielen sonst besonders zum Neujahrsfest konsumfreudigen Russen durch die Folgen des Krieges in diesem Jahr vergangen. Zwar erstrahlt etwa die Millionenmetropole Moskau mit opulenten Dekorationen und der Jolka, dem Weihnachtsbaum, auf jedem größeren Platz wie zum Beweis dafür, dass Energie das geringste Problem der Rohstoffgroßmacht ist. Aber der Glanz kann kaum über die vielen Probleme hinwegtäuschen: Viele Geschäfte sind geschlossen. Die Einkaufszentren sind bisweilen menschenleer. Restaurants beklagen einen Mangel an Neujahrsfeiern.

Im Moskauer Einkaufszentrum Jewropejski am Kiewer Bahnhof stehen Boutiquen von Dior, Chanel und Swarovski leer. Tausende westliche Firmen haben ihre Repräsentanzen in Russland wegen Moskaus Krieg gegen die Ukraine abgestoßen, weil die Sanktionen der EU und der USA Geschäfte erschweren oder unmöglich machen. Zahlreiche Einkaufszentren stünden vor dem Bankrott, sagt der Wirtschaftsprofessor Kirill Kulakow. Schon durch die Schließungen während der Pandemie seien viele in die Schieflage geraten.

«Die Probleme haben sich nun nach Beginn der militärischen Spezialoperation in der Ukraine und wegen der sinkenden Kaufkraft der Bevölkerung verschärft», sagte er in einem Radiointerview. Kulakow erwartet, dass sich die Lage zuspitzt. Viele Russen haben durch den Abzug westlicher Unternehmen und Investoren ihre Jobs verloren. Aber auch bei denen, die Arbeit haben, ist wegen der Inflation von etwa 15 Prozent das Geld knapp, weil Lebensmittel und andere Waren des täglichen Bedarfs immer teurer werden.

Wie ist die Stimmung in den Großstädten?

Zwar zeigen russische Staatsmedien in Auslandsberichten immer wieder voller Häme auch aus Deutschland Demonstranten und andere Unzufriedene, die sich über Energiepreise, kalte Wohnungen und andere Härten beklagen. Das soll den Russen zeigen, dass es in der Heimat, wo viele Wohnungen überheizt sind, besser ist.

Wer aber zwischen Russland und Deutschland pendelt, merkt schnell, dass die Stimmung in Moskau und anderen Städten trotz des Lichterglanzes düster ist. Der Lebensstandard fällt. Niemand weiß, wie lange der Krieg dauert. Die Angst ist groß, dass Kremlchef Wladimir Putin noch mehr Reservisten zum Krieg einziehen und damit noch mehr heile Familienwelten zerstören könnte. Auch wenn Putin bei seinen Fernsehauftritten die Probleme weglächelt, ist die Verunsicherung der Menschen greifbar.

Viele Zahlen spiegeln das wider. Verkäufer von Möbeln, Haushaltstechnik und Elektronik klagen über Umsatzeinbrüche von 30 Prozent oder mehr. Ähnlich sieht es bei Baumaterialien, Schuhen und Kleidung sowie Kosmetik aus. Zwar ist es trotz des Abzugs von Apple in Moskau kein Problem, das neueste iPhone zu bekommen. Aber nicht zuletzt wegen des vom Staat kontrollierten Rubelkurses müssen die Menschen dafür tief in die Tasche greifen.

Importeuere umgehen die Sanktionen

Stark zugenommen haben sogenannte Parallelimporte. Dabei werden Waren durch Dritte am Hersteller vorbei nach Russland eingeführt – unter Umgehung von Sanktionen. Die Türkei und Kasachstan, die die Sanktionen des Westens nicht mittragen, sind hier wichtige Partner Russlands. Gefragt sind in Russland etwa auch Hightech-Artikel für die Industrie und Rüstung. Hier sind nicht nur die Sanktionen und speziell das Verbot von Chiplieferungen, sondern zudem ein weltweiter Mangel an diesen Bauteilen hinderlich.

Spürbar ist die Krise besonders auf dem russischen Automarkt. Nach Branchenangaben brach der Neuwagenverkauf von Januar bis November um gut 60 Prozent ein. Von den einst 60 Automarken, die in Russland verkauft wurden, sind 14 übrig: 3 russische – Lada, UAZ und GAZ – und 11 chinesische. Der von Moskauer Bürokraten bejubelte Neustart der sowjetischen Marke Moskwitsch ist eine Kopie des chinesischen Kleinwagens JAC JS4.

Während die Auswahl bescheiden ist, sind die Preise stattlich. In sozialen Netzwerken kursiert ein Video, in dem sich ein Käufer darüber aufregt, dass in einem Moskauer Autosalon das chinesische SUV-Modell Chery Exceed für umgerechnet fast 90 000 Euro verkauft wird. «Dafür kann man in den USA einen Mercedes GLE kaufen.» Hier bekomme er ein chinesisches Auto, das im Herkunftsland ein Drittel koste, schimpft der Mann.

Joguhrtbecher und die Souveränität Russlands

Wie die Auto- klagt auch die Immobilienbranche über Absatzprobleme. Es gibt ein Überangebot, weil die Menschen kein Geld für den Wohnungskauf haben. Statistiken zufolge können Bauunternehmen derzeit jede dritte Wohnung in einem Neubau verkaufen. Im kommenden Jahr droht sich die Lage zu verschärfen, weil dann die staatlich gestützten Hypotheken auslaufen, die den Markt bislang stützen. Dann droht mehreren Baufirmen der Bankrott.

Lösungen für die Probleme bieten Putin und seine Regierung bisher kaum. Der Kreml setzt vielmehr auf die krisenerprobte Genügsamkeit vieler Russen. Als Putin einmal gefragt wurde, ob es nicht schlimm sei, dass es etwa auf Joghurtbechern kaum noch Farbe gebe, erwiderte er, ob eine schöne Verpackung wichtiger sei als die Souveränität Russlands. Er meinte damit, dass Russland trotz aller Nachteile und Sanktionen seine eigene Außenpolitik und damit den Krieg in der Ukraine unbeirrt fortsetzen werde.

Weiterlesen

Aktuelle Ausgabe kostenfrei als E-Paper lesen
Eifelzeitung E-Paper Aktuelle Ausgabe kostenfrei als E-Paper lesen