Vom Internetphänomen zum Romanautor: «Mindset» von El Hotzo

Von Lisa Forster, dpa

Berlin (dpa) – Auf Twitter schreibt er unter dem Namen El Hotzo zig satirische Nachrichten pro Tag und ist damit ziemlich erfolgreich. Seine Tweets, in denen er sich über den Kapitalismus, die politischen Parteien oder eine vermeintliche deutsche Leitkultur lustig macht, werden von mehreren Hunderttausend Menschen gesehen. Auf Instagram folgen ihm 1,3 Millionen.

Jetzt hat Sebastian Hotz, so der bürgerliche Name des 27-Jährigen, einen Roman geschrieben. «Mindset» ist im Prinzip eine Fortführung seines Twitter-Accounts und versammelt eine ganze Reihe witziger Alltagsbeobachtungen.

Das funktioniert auch in der längeren Form. Gerahmt werden die Witze von einer Geschichte über ein paar junge Männer, die versuchen, ihr Leben zu optimieren, und dabei einem bizarren Internet-Coaching verfallen.

Fahrrad «das niedrigste Glied in der Nahrungskette des Individualverkehrs»

Im Zentrum steht Maximilian Krach, ein junger Mann, der auf den ersten Blick recht erfolgreich ist. Er fährt teure Autos, trägt große Uhren und gibt sein Wissen in Selbstoptimierungs-Kursen weiter, die er über Instagram vermarktet. «GENESIS EGO» heißt seine Marke, und dahinter steckt die Idee, dass das richtige «Mindset» jedem Menschen zum Erfolg verhelfen könne. Erfolgreiche Menschen sind in dieser Theorie Wölfe, andere Menschen Schafe (oder «Lowperformer»). Und ein Fahrrad zum Beispiel «das niedrigste Glied in der Nahrungskette des Individualverkehrs».

Eines Tages werden Krachs Posts in den Instagram-Feed von Mirko gespült, der von seiner Tätigkeit in der IT eines mittelgroßen Unternehmens in Gütersloh äußerst gelangweilt ist. Er lässt sich von Krachs Ideen zur Selbstoptimierung anstecken und taucht ein in die Welt dieser jungen Männer, die alle die gleichen Slim-Fit-Anzüge tragen und am liebsten über Rennwagen reden.

Doch irgendwann geraten Störfaktoren in ihr Leben. Zwei Frauen bringen an unterschiedlichen Stellen der Geschichte die scheinbar so durchoptimierten Abläufe der «GENESIS EGO»-Anhänger ins Wanken.

Genüsslich seziert der Erzähler in «Mindset» die häufig tristen Alltagswelten der Protagonisten. Viele der Beobachtungen wären vermutlich auch als Tweet erfolgreich, etwa diese über unsere Arbeitswelt: «Die Industrialisierung brachte uns einen zerstörten Planeten, die komplette Entfremdung von unseren Mitmenschen und eine unübersichtlich große Auswahl an Puddinggeschmacksrichtungen, doch sie ersparte uns keine einzige Minute Arbeit.»

Roman gegen neoliberale Leistungsgesellschaft

Hotz kann dabei auch aus eigenen Erfahrungen schöpfen. Aufgewachsen ist er in Franken, inzwischen lebt er in Berlin. Vor seiner Tätigkeit als Autor und unter anderem Gag-Schreiber für das «ZDF Magazin Royale» absolvierte er in Nürnberg ein duales Studium. Das setzte sich aus BWL plus Ausbildung als Industriekaufmann bei Siemens zusammen, wie sein Verlag informiert.

Mit «Mindset» ist ihm nun mehr als eine Aneinanderreihung von Punchlines gelungen. Er hat einen Roman geschrieben, der gegen die Selbstoptimierung und eine neoliberale Leistungsgesellschaft wettert, dabei aber empathisch auf seine Protagonisten schaut. Niemand wird als plumper Bösewicht dargestellt, das tut der Geschichte gut. Manchmal fehlt den Charakteren die Tiefe – trotzdem will man wissen, wie es mit ihnen weitergeht.

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Musik als Perspektive – Grönemeyer-Album «Das ist los» Gegen die Angst

Von Gerd Roth, dpa

Berlin (dpa) – Da sucht einer. Nach von Isolation und Krisen, selbst Krieg geprägten Jahren braucht es sicher keine einfachen Antworten – aber Perspektiven, Wege, Aufbruch. Herbert Grönemeyer sucht mit seiner Musik. Das Resultat geht gut ins Ohr, ist teils mächtig tanzbar. 13 Songs, ein für seine Verhältnisse langes Album, markieren den vielschichtigen Blick des Musikers auf zwischenmenschliche Gefühle und gesamtgesellschaftliche Nöte. Der Titel wirkt wie ein Hinweis: «Das ist los» ist da.

Fragen über Fragen aus den vergangenen Jahren

«So eine Zeit wie in den letzten drei Jahren habe ich mit 66 auch noch nie erlebt. Wir alle nicht», sagt der Sänger. Die daraus resultierenden Fragen liefert er gleich mit: «Was schreibt man dann? Was ist da? Wie denkst du, wie fühlst du dich? Was hast du zu erzählen? Hast du überhaupt was zu erzählen? Wie geht es mit deinen Ängsten? Wie skeptisch bist du? Wie optimistisch bist du?»

Kunst wie etwa Musik sei «schon auch dafür da, Ängste ernst zu nehmen und gleichzeitig aber auch eine Perspektive zu formulieren». Dafür hat sich Grönemeyer zusammen mit Produzent Alex Silva in ein Haus nach Umbrien zurückgezogen. Er vergleicht es mit der Situation eines Malers: «Man sitzt zunächst wie vor einer weißen Leinwand.» Aber dann. «Diese italienische Lebensart, so eine luftige Heiterkeit, das hat uns dann schnell dabei geholfen, den Einstieg zu finden.»

Die Songs markieren nun eine hügelige Landschaft zwischen menschlichen Gefühlen und harten Realitäten, vieles noch im Nebel, aber manche Perspektive ist schon zu erkennen. Die Klavierballade «Tau» beschreibt Glück und Zweisamkeit: «Wir teilen die Kräfte auf». Im Opener «Deine Hand» singt Grönemeyer von Hoffnung, die «gerade so schwer zu finden» sei. Aber da ist eben auch jemand, der ihn gibt, «den Halt, den ich so dringend brauch’, um nicht zu brechen».

Ein Album voller Lebensfreude

Musikalisch lässt sich Grönemeyer durch seine Landschaften treiben. So wird das Album auch zu einer Zeitreise mit Anklängen früher Kraftwerk-Rhythmen («Herzhaft»), 80er Rock («Genie») oder 90er Pop («Das ist los»). Treibende Beats («Oh Oh Oh») wechseln sich ab mit Elektro- («Angstfrei») oder Hiphop-Sounds («Turmhoch»). Da steckt auch ganz viel Lebensfreude drin.

Ein Ausdruck für diese Lebensfreude kann Tanzen sein, von Grönemeyer in mehreren Songs aufgegriffen. «Nicht umsonst tanzen alle Kulturen, tanzen Kinder, weil sie sofort merken, sie sind versetzt in eine völlig andere Stimmung», sagt der Künstler. Tanzen sei elementar, um sorglos zu werden, «ein wunderbares Vehikel, um einfach mal für eine Zeit den ganzen Müll aus dem Kopf zu kriegen».

Als Musiker beschreibt er «dieses irre Privileg» für sich: «Ich gehe auf die Bühne, spiele ein Konzert und die Leute freuen sich daran. Ich kann das anschieben, dass die Leute sich in Bewegung versetzen.» Die erste Tour nach langen Pandemie-Jahren startet am 16. Mai.

Dabei kann Grönemeyer mit «Der Schlüssel» auch auf einen Song zu Migration und Flucht zurückgreifen. «Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl, Herkunft», sagt er. «Aber natürlich ganz klar: Wo fühle ich mich geborgen und in welcher Gemeinschaft fühle ich mich geborgen? Das ist ein Heimatbegriff, der – wenn man den wirklich sehr behutsam benutzt – uns alle interessiert.» Grönemeyer sieht viel von notwendiger Solidarität. «Leute versuchen hier, Flüchtlingen mit ihren Möglichkeiten eine neue Art von Heimat zu bieten. Wir sind eine starke Gemeinschaft, deswegen sind wir auch in der Lage, so vielen Menschen Schutz zu bieten.»

Starke Frauen

Starke Frauen bestimmen immer wieder Teile des Albums. «Das Aufbegehren der Frauen im Iran, Afghanistan und überhaupt weltweit seit einigen Jahren schüttelt uns andere richtig durch und ist wichtig: Wir erkennen enorme Kraft, eine bedingungslose Radikalität für weibliche und humanistische Themen und den Kampf für echte Freiheit und es wird Zeit, dass die überall gesehen wird und Dinge sich nachhaltig ändern», sagt der Sänger.

«Ohne Druck keine Diamanten» singt Grönemeyer in «Turmhoch». Wie hat er den Weg zu seinen Songs empfunden? «Der Druck für mich bei diesem Album war enorm hoch. Ich glaube, das ist auch das Drama des Alters, dass der gefühlte Druck immer höher wird. Also auch der Anspruch an einen selber.» Erwartungen kommen allerdings auch von außen. Mit «Das ist los» hat Grönemeyer sein 17. Studioalbum eingespielt. Bisher elf davon landeten auf Platz eins.

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Suters Roman über die Liebe und viele Wahrheiten

Von Christiane Oelrich, dpa

Zürich (dpa) – Der gebrechliche Dr. Stotz will seinen Nachlass ordnen und sichert sich für einen fürstlichen Lohn die Dienste des arbeitslosen jungen Juristen Tom Elmer. Zum Job gehören neben der Arbeit eine Wohnung im gleichen Haus, opulente Mahlzeiten, viel Alkohol und stundenlange Kamingespräche.

Schnell zeigt sich, dass die zentrale Rolle im Leben des Dr. Stotz eine mysteriöse Frau spielt. Was führt der Alte im Schilde, als er den jungen Anwalt Kiste um Kiste mit alten Dokumenten und Erinnerungen durchwühlen lässt?

Der Schweizer Autor Martin Suter hat wieder einen richtigen Roman vorgelegt, seinen elften. Der Name der mysteriösen Frau ist auch der Titel: Melody. «Er klingt wie eine Melodie, ist geheimnisvoll und hat etwas Verlockendes», sagt Suter der Deutschen Presse-Agentur. Und das wiederum klingt wie die Quintessenz der suterschen Schriftstellerei. Zu seinen Geschichten gehören oft so Verlockendes wie Liebe und gutes Essen, ein Faden wie eine Melodie und vor allem Geheimnisse um Schein und Sein. «Bei Melody ist es sogar ganz stark so», sagt Suter.

Langes Warten

Dr. Stotz kommt mit genügend Alkohol immer mehr in Fahrt, wenn er Tom seine Melody-Erlebnisse häppchenweise präsentiert. Was ist aber aus ihr geworden, nachdem sie vor mehr als 40 Jahren kurz vor der Hochzeit spurlos verschwand? Wirklich spurlos? Der Alte erweist sich als verdammt guter Geschichtenerzähler. Suter hinterlässt auf Toms Suche nach der Wahrheit immer wieder «Schein und Sein»-Spuren: «Suchen wir nicht alle nach einer Geschichte, die uns interessanter macht?» fragt ein Freund von Dr. Stotz etwa.

Anhänger von Suters bunten Roman-Welten mussten sechs Jahre auf das neue Buch warten, seit «Elefant» (2017). In der Zwischenzeit hat er das Protokoll seiner privaten Plaudereien mit dem Autor Benjamin von Stuckrad-Barre über Badehosen, Glitzer und LSD (2020, «Alle sind so ernst geworden») und eine Roman-Biografie über einen der bravsten deutschen Fußballer, Bastian Schweinsteiger, vorgelegt (2022, «Einer von euch»). Anders halt. Nun also wieder ein Roman ganz im suteresken Stil. Kostprobe: «Am Anfang trug er keine Krawatte. Seine Abschlussnoten waren Krawatte genug, fand er», oder: «Es roch nach Tabakpfeife, Kaffee und Vergangenem».

«Melody» ist ein Buch über die Tücken des Alters und die Eitelkeit mancher, vor dem Ableben noch ihre Biografie für die Nachwelt zu schönen. Und natürlich über die ewige Liebe. Darüber weiß Suter einiges, er ist seit fast 45 Jahren mit seiner Frau zusammen. Was ist das Geheimnis einer langen Liebe? Typisch Suter, geheimnisvoll: «Ich bin immer noch dabei, das herauszufinden. Das Leben ist eigentlich zu kurz, um sich richtig kennenzulernen, auch sich selbst.»

Wie ein Gitarrist ohne Verstärker

Mit «Melody» hat Suter auch eine andere Liebe wieder entdeckt: das Schreiben von Hand. Er habe einen Tablet-Computer gefunden, der Hand- in Druckschrift verwandelt. «Dadurch habe ich nicht jeden Tag ein paar Stunden an meinem Schreibtisch gesessen, sondern auch mal auf dem Sofa, im Garten, in der Bahn geschrieben – ganz «unplugged», wie ein Gitarrist ohne Verstärker», erzählt er. Es war eine gute Erfahrung. «Durch moderne Technik werde ich immer altmodischer, ich schreibe wieder von Hand, wie mit 16», sagt Suter.

Und noch einmal Melody: Was ist die Moral von der Geschicht’? «Meine Geschichten haben eigentlich keine Moral», sagt Suter. «Aber ich weiß, was Sie meinen. Es ist vielleicht: Es gibt nicht nur eine Wahrheit, es gibt viele Wahrheiten.»

 

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«Liebes Arschloch»: Virginie Despentes ganz zivil

Von Sibylle Peine, dpa

Berlin (dpa) – Der Briefroman, scheinbar ein Relikt vergangener Zeiten, erlebt gerade seine Wiederauferstehung als zeitgemäßer Social-Media-Roman. So beim aktuellen Bestseller «Zwischen Welten» von Juli Zeh und Simon Urban, in dem sich zwei alte Studienfreunde einen heftigen Schlagabtausch mittels E-Mails und WhatsApp-Nachrichten liefern.

Im neuen Roman «Liebes Arschloch» der französischen Schriftstellerin Virginie Despentes wiederum sind es ein Schriftsteller, eine Schauspielerin und eine junge feministische Bloggerin, die sich in Instagram-Posts zu allen möglichen gesellschaftlichen Reizthemen fetzen.

Da die Social-Media-Kanäle geradezu berüchtigt sind für ihren wüsten Sprachfuror, scheint die Eskalation vorprogrammiert. Doch überraschenderweise schlägt Despentes, das «enfant terrible» der französischen Literatur, bekannt für ihre Kompromisslosigkeit und Unerschrockenheit, in ihrem neuen Roman ungewohnt versöhnliche Töne an. Statt Hass und Wut regieren am Ende Verständnis und Freundschaft zwischen den so unterschiedlichen Protagonisten. Ein zivilisierter Umgang, so die Botschaft, scheint auch im digitalen Zeitalter durchaus machbar.

Bei Insta fliegen die Fetzen

Am Anfang allerdings geht es heftig zur Sache. Oscar, ein aus einfachen Verhältnissen stammender Schriftsteller, hat sich einen gewissen Ruhm erarbeitet. Bis zu dem Tag, da die Bloggerin Zoé eine MeToo-Kampagne gegen ihn lostritt, nachdem sie von Oscar gestalkt wurde. Der wiederum zeigt sich genau als das uneinsichtige «Arschloch», das sie anprangert. Er tritt nicht nur gegenüber Zoé nach, sondern beleidigt auf seinem Instagram-Account auch noch die Schauspielerin Rebecca Latté. Diese einst von ihm verehrte Schönheit sei «heute zu einer Schlampe verkommen. Nicht nur alt. Sie ist auch auseinandergegangen, verlebt, schlechte Haut, ein schmuddeliges, lautes Weibsstück. Eine einzige Katastrophe.»

Doch die «Schlampe» zahlt es ihm in gleicher Münze heim. «Liebes Arschloch», schreibt sie, «ich habe deinen Beitrag auf Insta gesehen. Du bist wie eine Taube, die mir im Vorbeifliegen auf die Schulter kackt. Das ist dreckig und sehr unangenehm. Fiep, fiep, fiep, ich bin ein kleiner Angsthase, für den sich niemand interessiert, und winsle wie ein Chihuahua, weil ich davon träume, dass man mich bemerkt. Ruhm den sozialen Netzwerken.»

Natürlich kommt Despentes’ Roman als ein recht verspäteter Beitrag zur MeToo-Debatte. Schließlich war der Weinstein-Skandal schon im Jahr 2017. Allerdings muss man sagen, dass diese Debatte Frankreich mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung erreichte. Despentes trifft in ihrer Heimat auch einen Nerv, weil sie ihren Roman im Künstler- und Medienmilieu ansiedelt. Genau dort waren in den vergangenen Jahren die heftigsten MeToo-Skandale offenbar geworden, so wurde der langjährige Star-Fernsehmoderator Patrick Poivre d’Arvor von Frauen beschuldigt, sie belästigt und vergewaltigt zu haben. Das Thema treibt die französische Gesellschaft immer noch um.

Es geht auch um das Altern und Corona

Allerdings ist MeToo nur eines von mehreren gesellschaftlich relevanten Themen, die der Roman anreißt. Es geht sehr stark auch um verschiedene Süchte – bei Oscar ist es der Alkohol, bei Rebecca das Heroin, es geht um das Altern im Filmgeschäft und nicht zuletzt auch um Corona, denn die Geschichte ist in der Zeit der Lockdowns angesiedelt.

Aus der anfänglichen digitalen Pöbelei wird mit der Zeit Nachsicht. Oscar, das «liebe Arschloch», zeigt sich reumütig und einsichtig. Er bittet Zoé schließlich sogar um Vergebung. Beide, Oscar und Rebecca, stellen sich am Ende auch ihren Süchten.

Ist das zu viel der Harmonie? Vielleicht. Aber die Entwicklung der Figuren ist Virginie Despentes durchaus überzeugend gelungen, wie es ihr überhaupt leicht fällt, in die so unterschiedlichen Rollen zu schlüpfen. Das Buch kommt mal ruppig und motzig, dann wieder fast weich und verständnisvoll daher, immer aber unterhaltsam.

Virginie Despentes: Liebes Arschloch, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 336 Seiten, 24,00 Euro, ISBN 978-3-462-00499-1

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Annett Louisans neues Album ist (ent-)spannender Hörgenuss

Von Janina Heinemann, dpa

Hamburg (dpa) – Bunt und abstrus wie das Leben, so ist das neue Album «Babyblue» von Annett Louisan – sowohl textlich als auch melodisch. Die Sängerin beschäftigt sich darauf mit Themen wie Liebe, Enttäuschungen, Partnerschaft, Sterben und Glaube, aber auch mit dem Älterwerden.

So singt sie in dem sanften, chansonartig-melancholischen «Die mittleren Jahre»: «Ich will nicht wieder 20 sein.» Warum das so ist, verrät die 45-Jährige der Deutschen Presse-Agentur in Hamburg: «Ich bin schlagfertiger und lustiger geworden und ich hab’ besseren Sex als früher.»

Louisan will die Schönheit im Alter finden

«Ich versuche, das Älterwerden anders zu betrachten und darin Weisheiten und Schönheiten zu finden, die es definitiv birgt. Nicht Altwerden, nicht Jungbleiben, sondern jeden Tag mehr werden. Um so zu leben, sollte man aber nicht zu viel verdrängen oder festhalten. Das ist manchmal nicht so einfach – die Vergangenheit loszulassen.»

Darum geht auch auf humorvolle Weise in dem Lied «Die fabelhafte Welt der Amnesie» – um Verdrängung. «Auf der einen Seite rein, auf der anderen wieder raus» heißt es da, untermalt von einer beschwingten Melodie und mit den für Louisan so typischen Wortspielen. Ebenso findet sich das bei «Hallo Julia», das anfangs stark an Bachs Praeludium in C-Dur erinnert, später an Leonard Cohens «Hallelujah», und das wie ein Choral vor sich hinfließt.

Titelsong mit Bezug zur Hamburger Prostitutionsmeile

So richtig in der Tradition des französischen Chansons steht dann das luftig-leichte «L’Amour», in dem die Sängerin eine wunderbar zarte Rauchstimme hervorzaubert. Ganz anders kommt dagegen der Titelsong «Babyblue» daher. Er handelt von der «schönsten Frau der Herbertstraße» (jener berüchtigten Prostitutionsmeile in Hamburg, zu der Frauen keinen Zutritt haben), deren Künstlername Babyblue lautet. Zeilen wie «sie schenkte mir Liebe, die Liebe, die ich brauchte» stimmen nachdenklich.

Zu dem Themen-Potpourri, das «Babyblue» bietet, gehört auch Freundschaft. Im hymnenartigen Song «Blutsschwestern» singt Annett Louisan: «Männer kommen und gehen» und «stille Wasser sind tief, aber unsere sind tiefer». Für sie selbst sind Freunde wie eine «selbst gewählte Familie», in der es «absolutes Vertrauen» gebe.

Abwechslungsreiche Melodien und Melodie-Text-Scheren

Neben poetischen Texten mit Wortwitz sind auch Melodie-Text-Scheren typisch für die Wahl-Hamburgerin. So singt sie mit zuckersüßer Stimme vom Betrogensein im Lied «Arsch»: «Du liebst wie ein Arsch» und «Du nahmst mich aufs Korn», was ihrer sanften Stimme entgegensteht. Am Ende besingt sie dann noch den Tod, zählt mit einer gewissen Todessehnsucht zerplatzte Träume auf.

So ein zerplatzter Traum bezieht sich für Annett Louisan auch auf die Liebe: «Liebesschmerzen rühren nicht von dem Verlust eines Menschen, sondern vom Verlust des Traumes, den man an diesen Menschen geknüpft hat.» Und so erzählt Annett Louisan auf «Babyblue» Geschichten, die mit ihren abwechslungsreichen Melodien das breite Spektrum der Sängerin aufzeigen und ein durchaus (ent-)spannender Hörgenuss sind.

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Bret Easton Ellis meldet sich mit «The Shards» zurück

Von Felix Schröder, dpa

Los Angeles (dpa) – Bret Easton Ellis ist nach mehr als 12 Jahren zurück. Und wie: Der Autor liefert mit dem 736 Seiten starken Roman «The Shards» – deutsch: «Scherben» – eine hedonistische, verrückte, düstere und tragisch-komische Geschichte, die im Los Angeles der 1980er-Jahre im elitären Zirkel mehrerer Jugendlicher spielt. Zuletzt hatte Ellis 2010 «Imperial Bedrooms» veröffentlicht.

Der Autor, der 1991 für sein Werk «American Psycho» viel Kritik einstecken musste, macht sich in der Geschichte selbst zum Erzähler und zur Hauptfigur – zumindest einen Teil von sich. Die Nähe zwischen der Romanfigur, dem Jugendlichen Bret, und dem Autor ist in der Autofiktion schwer auszumachen. Laut dem 58 Jahre alten Schriftsteller ist das aber auch gar nicht so entscheidend: «Die Wahrheit wird man niemals in so etwas wie einem Roman finden. Wird nicht passieren. Mich interessiert die Wahrheit nicht wirklich», sagte Ellis im Interview von «Zeit Online».

Drogen spielen eine große Rolle

Die Hauptfigur und ihre Freunde von der Buckley-Eliteschule, nahezu alle aus wohlhabenden Verhältnissen, sind Drogen-affin und lassen keine Möglichkeit aus, sich mit Kokain und Gras zu berauschen. Aus den Lautsprechern dröhnen Blondie, The Babys und Duran Duran.

Autor Ellis ist schwul. Protagonist Bret ist bisexuell und er betrügt seine Freundin Debbie mit Männern. Der Schriftsteller berichtete in einem Interview von einer Freundin in seiner Jugend, die er aus Alibi-Gründen hatte. Er beschreibt in vielen Passagen Brets sexuelle Gelüste und vor allem seine Freude am Experimentieren. Neben Bret und Debbie gibt es noch das typische Schulpärchen – bestehend aus dem beliebten Quarterback Thom und der Jahrgangsschönsten Susan im Freundeskreis.

Die heile College-Welt bekommt Risse

Das Werk liest sich zunächst unbeschwert – fast so «locker-leicht», wie Bret den kalifornischen Sommer beschreibt. Eigentlich sollte das letzte Schuljahr ein Traum werden – doch es kommt anders. Die unheilvollen Ereignisse geschehen im Jahr 1981, als der mysteriöse Robert Mallory zu der Gruppe stößt. Er ist ein Mädchenschwarm, der schon damit für Fragen sorgt, weil er im Abschlussjahr auf die Schule wechselt. Bret hält ihn seit der ersten Begegnung in der Schule für einen Lügner und versucht, dem Geheimnis des rätselhaften Mitschülers auf die Schliche zu kommen.

Doch im Gegensatz zu den anderen typischen College-Geschichten mit halb-dramatischen Beziehungsstreitigkeiten webt Ellis eine düstere und verstörende Erzählung in die sonst eher heile Welt der Eliteschüler hinein. Sie müssen sich mit dem schillernden, aber zugleich irgendwie bedrohlichen Los Angeles mit seinen eitlen Figuren, die alle ihre Schattenseiten haben, auseinandersetzen. Einer der Väter der Jugendlichen ist ein gut vernetzter und selbstgerechter Hollywood-Produzent, der aber insgeheim sexuelle Begierden zu viel zu jungen Schülern verspürt. Und dann gibt es noch den «Trawler», ein grausamer Serienmörder, der in der Stadt sein Unwesen treibt.

Verstörende Schilderungen

Ellis ist ein begnadeter Erzähler. Er platziert immer wieder geschickt Cliffhanger, um die Spannung hochzuhalten. Für ihn ist das aber auch einfach, weil der Erzähler der älter gewordene Bret ist, der als allwissender Beobachter den Ausgang der Story kennt. Ellis stattet auch belanglose Situationen mit packenden Dialogen und unerwarteten Wendungen aus. Der Detailreichtum des Werks ist enorm.

Hier liegen aber die Schwächen, denn einige Äußerungen sind nur schwer erträglich. Grausame Schilderungen von Tatorten, vulgäre Fantasien des Protagonisten: Das Buch ist stellenweise nichts für zartbesaitete Leser. Andererseits schreibt der Autor nicht für eine empfindsame Zielgruppe. Ellis wurde bereits in «American Psycho» für barbarische Details kritisiert. «Mag sein, dass ich Leser verstöre, aber ich tue es nicht vorsätzlich», sagte er in einem Interview der «Süddeutschen Zeitung». Die Rezeption der Leser scheint Ellis nicht wichtig zu sein. «Ich denke überhaupt nicht über den Leser nach», sagte er im Interview von «Zeit Online» und schob hinterher: «Der Leser hat nichts mit der Erschaffung eines Buchs zu tun, sorry!»

Bret Easton Ellis, The Shards, Kiepenheuer&Witsch, Köln, 736 Seiten, 28 Euro, ISBN 978-3-462-31151-8

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