«Liebes Arschloch»: Virginie Despentes ganz zivil

Von Sibylle Peine, dpa

Berlin (dpa) – Der Briefroman, scheinbar ein Relikt vergangener Zeiten, erlebt gerade seine Wiederauferstehung als zeitgemäßer Social-Media-Roman. So beim aktuellen Bestseller «Zwischen Welten» von Juli Zeh und Simon Urban, in dem sich zwei alte Studienfreunde einen heftigen Schlagabtausch mittels E-Mails und WhatsApp-Nachrichten liefern.

Im neuen Roman «Liebes Arschloch» der französischen Schriftstellerin Virginie Despentes wiederum sind es ein Schriftsteller, eine Schauspielerin und eine junge feministische Bloggerin, die sich in Instagram-Posts zu allen möglichen gesellschaftlichen Reizthemen fetzen.

Da die Social-Media-Kanäle geradezu berüchtigt sind für ihren wüsten Sprachfuror, scheint die Eskalation vorprogrammiert. Doch überraschenderweise schlägt Despentes, das «enfant terrible» der französischen Literatur, bekannt für ihre Kompromisslosigkeit und Unerschrockenheit, in ihrem neuen Roman ungewohnt versöhnliche Töne an. Statt Hass und Wut regieren am Ende Verständnis und Freundschaft zwischen den so unterschiedlichen Protagonisten. Ein zivilisierter Umgang, so die Botschaft, scheint auch im digitalen Zeitalter durchaus machbar.

Bei Insta fliegen die Fetzen

Am Anfang allerdings geht es heftig zur Sache. Oscar, ein aus einfachen Verhältnissen stammender Schriftsteller, hat sich einen gewissen Ruhm erarbeitet. Bis zu dem Tag, da die Bloggerin Zoé eine MeToo-Kampagne gegen ihn lostritt, nachdem sie von Oscar gestalkt wurde. Der wiederum zeigt sich genau als das uneinsichtige «Arschloch», das sie anprangert. Er tritt nicht nur gegenüber Zoé nach, sondern beleidigt auf seinem Instagram-Account auch noch die Schauspielerin Rebecca Latté. Diese einst von ihm verehrte Schönheit sei «heute zu einer Schlampe verkommen. Nicht nur alt. Sie ist auch auseinandergegangen, verlebt, schlechte Haut, ein schmuddeliges, lautes Weibsstück. Eine einzige Katastrophe.»

Doch die «Schlampe» zahlt es ihm in gleicher Münze heim. «Liebes Arschloch», schreibt sie, «ich habe deinen Beitrag auf Insta gesehen. Du bist wie eine Taube, die mir im Vorbeifliegen auf die Schulter kackt. Das ist dreckig und sehr unangenehm. Fiep, fiep, fiep, ich bin ein kleiner Angsthase, für den sich niemand interessiert, und winsle wie ein Chihuahua, weil ich davon träume, dass man mich bemerkt. Ruhm den sozialen Netzwerken.»

Natürlich kommt Despentes’ Roman als ein recht verspäteter Beitrag zur MeToo-Debatte. Schließlich war der Weinstein-Skandal schon im Jahr 2017. Allerdings muss man sagen, dass diese Debatte Frankreich mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung erreichte. Despentes trifft in ihrer Heimat auch einen Nerv, weil sie ihren Roman im Künstler- und Medienmilieu ansiedelt. Genau dort waren in den vergangenen Jahren die heftigsten MeToo-Skandale offenbar geworden, so wurde der langjährige Star-Fernsehmoderator Patrick Poivre d’Arvor von Frauen beschuldigt, sie belästigt und vergewaltigt zu haben. Das Thema treibt die französische Gesellschaft immer noch um.

Es geht auch um das Altern und Corona

Allerdings ist MeToo nur eines von mehreren gesellschaftlich relevanten Themen, die der Roman anreißt. Es geht sehr stark auch um verschiedene Süchte – bei Oscar ist es der Alkohol, bei Rebecca das Heroin, es geht um das Altern im Filmgeschäft und nicht zuletzt auch um Corona, denn die Geschichte ist in der Zeit der Lockdowns angesiedelt.

Aus der anfänglichen digitalen Pöbelei wird mit der Zeit Nachsicht. Oscar, das «liebe Arschloch», zeigt sich reumütig und einsichtig. Er bittet Zoé schließlich sogar um Vergebung. Beide, Oscar und Rebecca, stellen sich am Ende auch ihren Süchten.

Ist das zu viel der Harmonie? Vielleicht. Aber die Entwicklung der Figuren ist Virginie Despentes durchaus überzeugend gelungen, wie es ihr überhaupt leicht fällt, in die so unterschiedlichen Rollen zu schlüpfen. Das Buch kommt mal ruppig und motzig, dann wieder fast weich und verständnisvoll daher, immer aber unterhaltsam.

Virginie Despentes: Liebes Arschloch, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 336 Seiten, 24,00 Euro, ISBN 978-3-462-00499-1

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