Napoleon Peltzer

Wenige Jahrzehnte nach dem katastrophalen Scheitern Napoleon Bonapartes in Russland (1812) war ein anderer Napoleon im Zarenreich außergewöhnlich erfolgreich: Der nach dem Franzosenkaiser benannte Eifler Napoleon Peltzer wurde zu einem der wichtigsten Tuchproduzenten des Zarenreichs und Begründer einer bis zum Revolutionsjahr 1917 in Russland einflussreichen Unternehmerdynastie.

Dass Peltzers Eltern Johann Wilhelm (1770–1849) und Anna Sophia (geb. Esser, 1768–1841) ihren 1802 in Wenau bei Langerwehe geborenen dritten Sohn Napoleon nannten, entsprang keiner bloßen Laune. Es drückte vielmehr ihre Zustimmung zur Französischen Revolution und zur Herrschaft Napoleons aus. Vater Peltzer entstammte einer reformierten Unternehmerfamilie der Nordeifel, die in den vorangegangenen Generationen durch die  Messingfabrikation in Stolberg wohlhabend geworden war. Johann Wilhelm selbst verlegte sich auf Branntweinherstellung in Weisweiler und Eisenverhüttung in Schevenhütte. Zudem erwarb er sich als Immobilienmakler so viel Vermögen, dass er bei der von Napoleon angeordneten Versteigerung von Kirchengütern das Kloster Wenau mit seinen ausgedehnten Ländereien erwerben konnte.

Die aus Langerwehe gebürtige Historikerin Gabriele Clemens sieht in J. W. Peltzer, der Maire (Bürgermeister) von Weisweiler wurde, einen typischen Vertreter jener bürgerlichen Schicht, auf die sich Napoleon gezielt stützte. Die Napoleonbegeisterung dieser Peltzer-Familie war so groß, dass sich der älteste Sohn Sigismund als Siebzehnjähriger dem Russlandfeldzug 1812 anschloss. Das Ende der Franzosenherrschaft stürzte die Familie in enorme wirtschaftliche Schwierigkeiten; sie konnten das Gut Wenau nicht halten. Napoleon Peltzer musste sich als 15-Jähriger als Fuhrkutscher verdingen, ehe er eine harte Gerberlehre in Köln begann. Als 19-Jähriger folgte er dem Ruf seines Bruders Sigismund, der nach Russland zurückgekehrt war und dort wirtschaftlich Fuß gefasst hatte. 1821 trat der Eifler Napoleon seine Fußwanderung ins Zarenreich an, wo er sich in einer Moskauer Tuchfabrik zum exzellenten Tuchfachmann ausbildete.

Noch in seinen Zwanzigern wagte er den Schritt in die Selbständigkeit, bereits 1831 errang von ihm produziertes Feintuch auf einer Moskauer Industrieausstellung eine Goldmedaille. Als sich im folgenden Jahrzehnt der in Sankt Petersburg lebende deutschjüdische Bankier und Textilunternehmer Ludwig Stieglitz – der „Rothschild Russlands“ – entschloss, die Tuchfabrikation auszudehnen und zu modernisieren und er zu diesem Zweck eine Fabrik am estnisch-russischen Grenzfluss Narva kaufte, wählte Stieglitz den Eifler Peltzer zu seinem Direktor. Peltzers Management entsprach den hohen Erwartungen von Stieglitz. Das Werk an der Narva wurde in technologischer und sozialer Hinsicht der fortschrittlichste russische Textilbetrieb, dessen Qualitätsprodukte vor allem von der Zarenarmee geschätzt wurden. Als 1856 der Bremer Großkaufmann Ludwig Knoop (1821–1894) – als „Genie des Kapitalismus“ mit seinen Aktivitäten im Russischen Reich einer der Unternehmer-Titanen des 19. Jahrhunderts – die Narva-Flussinsel Krähnholm erwarb und dort eine Baumwollfabrik errichtete, die sich zu einem der weltweit größten Textilindustriekomplexe entwickelte, konnte sich die Stieglitzfabrik mit ihrem Direktor Peltzer dennoch erfolgreich daneben behaupten. 1872 kam es in der knoopschen „Krähnholm Manufaktur“ zu einem erbitterten Arbeitskampf, in dessen Verlauf sogar zwei Töchter Peltzers vor aufgebrachten Arbeitern in Sicherheit gebracht werden mussten. Derartige Vorkommnisse störten die großbürgerliche Lebensweise der Peltzer-Familie allerdings nur selten. Peltzer hatte 1833 die dreizehnjährige Katharina Mollenhauer geheiratet. Aus der Ehe gingen zehn Kinder hervor, drei davon heirateten Vettern beziehungsweise Kusinen. Nachfahren von Napoleon Peltzer sind der Schauspieler Ulrich Tukur und der Schriftsteller Sten Nadolny, die beide heute zur kulturellen Elite Deutschlands  zählen. Zur peltzerschen Tuchindustriellendynastie in Russland gehörten auch Napoleons Brüder, die ebenfalls ins Zarenreich ausgewandert waren. In Narva oder auf ihren sonstigen herrschaftlichen Gütern empfingen die Peltzers Mitglieder des Hochadels; Napoleon Peltzer und einige seiner Nachkommen wurden geadelt und hoch geehrt. Als der Einwanderer aus der Eifel 1889 in der Stadt Narva starb, würdigte man ihn als einen der großen Industriepioniere des Zarenreichs.

Verfasser: Gregor Brand

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