Teures Erbe: Rückblick auf 60 Jahre Kernenergie in Zahlen

Von Ulrike von Leszczynski, dpa

Berlin (dpa) – Rund sechs Jahrzehnte lang haben Atomkraftwerke in Deutschland Strom produziert. Bei der Suche nach einem Endlager für hochradioaktiven Müll aus diesen Anlagen geht es um eine Million Jahre. War es das wert? Versuch einer kleinen Bilanz in Zahlen.

ANZAHL: Seit 1962 gingen in Deutschland nach Angaben des Bundesministeriums für Wirtschaft 37 Kernkraftwerke ans Netz – Forschungsreaktoren nicht eingerechnet. Die erste Einspeisung in der Bundesrepublik gab es 1961 im Versuchsatomkraftwerk Kahl in Bayern. In der DDR ging 1966 die Anlage in Rheinsberg (heute im Land Brandenburg) in Betrieb.

LAUFZEITEN: Sehr lange am Netz waren mit 37 Jahren zum Beispiel die Atomkraftwerke in Grohnde (Niedersachsen), Gundremmingen (Bayern) und Obrigheim (Baden-Württemberg), aber auch andere Anlagen liefen über 30 Jahre. Nur ganz kurz in Betrieb war dagegen der rund sieben Milliarden Mark (3,6 Milliarden Euro) teure Meiler in Mülheim-Kärlich nahe Koblenz. Er lief nach dem Probebetrieb wegen fehlender Baugenehmigung nur 100 Tage. In den DDR-Anlagen Rheinsberg und Greifswald ging das Atomstrom-Zeitalter kurz nach der Wende wegen Sicherheitsbedenken zu Ende. Eine riesige Anlage nahe Stendal blieb eine Bauruine.

FEHLPLANUNG: Nicht alle Atomkraftwerke gingen ans Netz. Der «Schnelle Brüter» im nordrhein-westfälischen Kalkar war zum Beispiel 1985 fertig, ging aber wegen Bürgerprotesten und Sicherheitsbedenken nie in Betrieb. Die Investitionsruine kostete rund sieben Milliarden Mark (3,6 Milliarden Euro) und ist heute ein Freizeitpark.

STROMPRODUKTION: Nach Angaben des Vereins Kerntechnik Deutschland erzeugten deutsche Atomkraftwerke zwischen 1961 und Ende 2021 rund 5560 Milliarden Kilowattstunden Strom brutto. Mit einer Kilowattstunde Strom kann man zum Beispiel eine Stunde staubsaugen. Der Anteil der Kernenergie am deutschen Strommix lag viele Jahre bei rund einem Drittel. Der schrittweise deutsche Atomausstieg führte dazu, dass er 2022 nur noch 6,4 Prozent ausmachte. Zum Vergleich: Grüne Energie brachte es im vergangenen Jahr auf einen Anteil von 46,3 Prozent, Kohle lag bei 33,3 und Erdgas bei 11,4 Prozent.

ATOMSTROM IM VERGLEICH: Eine Kostenanalyse von Strom aus Kernenergie in Deutschland ist selbst für die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags ein Problem. Für die Zeit vor 2007 existierten beispielsweise keine umfassenden Daten zu den externen Kosten und dem Marktwert von Kernenergie, heißt es. Für 2021 hat der Dienst die gesamtgesellschaftlichen Stromkosten – also zum Beispiel inklusive Subventionen und möglichen Umweltschäden – verglichen. Mit 37,8 Cent pro Kilowattstunde war Atomstrom demnach mit Abstand am teuersten. Kohle liegt nach der Berechnung zwischen 23,3 und 25,6 Cent, Solar bei 22,8 Cent und Wind zwischen 8,8 und 18,5 Cent pro Kilowattstunde.

FOLGEKOSTEN: Allein die Menge hochradioaktiver Abfälle aus Brennelementen wird in Deutschland auf rund 10 500 Tonnen geschätzt. Eine Kommission hat die gesamten Entsorgungskosten für Deutschland 2016 auf rund 48,8 Milliarden Euro kalkuliert (mit Preisen von 2014). Ein Endlager in Deutschland gibt es noch nicht. In einer Broschüre für das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung heißt es, dass in Deutschland ein bis zwei Generationen von der Atomenergie profitiert hätten. Endlager beträfen das Leben von mehr als 33 000 künftigen Generationen.

NEUE RISIKEN: Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine sind kerntechnische Anlagen das erste Mal zum Ziel kriegerischer Auseinandersetzungen geworden. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung listet auf der gesellschaftlichen Kostenseite auch die Gefahr der Weiterverbreitung waffenfähigen radioaktiven Materials aus Atommeilern auf. Dazu kämen die bekannten Risiken radioaktiver Strahlung wie nach den großen Havarien in Harrisburg (USA/1977), Tschernobyl (Sowjetunion/Ukraine/1986) und Fukushima (Japan/2011). Der Verein Kerntechnik Deutschland, zu dem auch Energieversorger gehören, sieht den Nutzen der Kernenergie dennoch um das mindestens Achtfache höher als die gesellschaftlichen Kosten.

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Wie funktioniert die Abschaltung eines Kernkraftwerks?

Von Stella Venohr, dpa

Berlin (dpa) – Jetzt aber wirklich: Am 15. April soll der Atomausstieg in Deutschland kommen. Nachdem die Politik wegen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine und der daraus folgenden Energiekrise noch einmal einen Aufschub gewährt hatte, sollen dann auch die letzten drei aktiven Meiler Neckarwestheim 2, Isar 2 und Emsland vom Netz sein. Wie das aussehen kann:

Wie funktioniert ein Kernkraftwerk?

Ein Kernkraftwerk produziert Strom aus Wärme. Bei der Spaltung der Atomkerne wird Energie freigesetzt. Die Hitze, die dabei entsteht, wird genutzt, um Wasser in Dampf umzuwandeln. Dieser Dampf treibt dann eine Turbine an, die wiederum einen Generator antreibt, der Strom produziert.

Was passiert bei der Abschaltung eines Meilers?

Die Leistung des Reaktors wird nach Angaben des Kraftwerksbetreibers Energie Baden-Württemberg (EnBW) kontinuierlich abgesenkt. Dies geschehe durch das schrittweise Einfahren von sogenannten Steuerstäben in den Reaktorkernen – diese dienen der Regelung und Abschaltung eines Kernreaktors. Danach wird der Generator vom Stromnetz gekommen und der Reaktor komplett abgeschaltet.

Der Abschaltvorgang funktioniere wie bei den regelmäßigen Überprüfungen, erläutert der Kraftwerksleiter des bayrischen Meilers Isar 2, Carsten Müller. Nach der Netztrennung werde der Reaktor heruntergefahren, sagt Müller. «Das dauert etwa eine Viertelstunde.»

Dann beginnt die eigentliche Arbeit: Die hochradioaktiven Brennelemente werden entfernt und in sogenannten Castorbehältern in Zwischenlagern aufbewahrt. In Deutschland gibt es aktuell 16 Zwischenlager für hochradioaktive Abfälle.

Gibt es denn kein Endlager in Deutschland?

Nein. Es wird weiterhin nach einem Endlager für hochradioaktive Abfälle gesucht. 2017 wurde ein neues Verfahren dafür gestartet, um die Öffentlichkeit miteinzubeziehen. Doch die Aufgabe ist nicht leicht – wer möchte schon Tür an Tür mit einem Lager für Atommüll wohnen?

«Dies ist auch nicht der Anspruch des Verfahrens», sagt der Präsident des Bundesamts für die Sicherheit nuklearer Entsorgung (BASE), Wolfram König. Die Entscheidung solle von den Betroffenen aber zumindest toleriert werden können. Und egal wie man «zur Atomkraft steht oder gestanden hat: Der Abfall ist nun mal da. Jetzt ist es unsere Aufgabe, kommenden Generationen dieses Problem nicht zu hinterlassen», sagt König.

Immerhin für schwach- und mittelradioaktive Abfälle scheint ein Endlager gefunden zu sein: Das ehemalige Eisenerzbergwerk in Salzgitter, Schacht Konrad, ist dem BASE zufolge das erste nach Atomrecht genehmigte Endlager für diesen Zweck. Es soll 2027 in Betrieb gehen.

Welche Mengen radioaktiver Abfälle gibt es in Deutschland?

Unterschieden wird zwischen hoch-, mittel- und schwachradioaktiven Abfällen. Bei hochradioaktiven Abfällen handelt es sich meist um verbrauchte Brennelemente aus Atomkraftwerken oder Forschungsreaktoren. Diese machen nach Angaben des BASE zwar nur 5 Prozent des gesamten Volumens der radioaktiven Abfälle aus, bringen aber 99 Prozent der Aktivität mit sich.

Doch auch die Entsorgung von schwach- und mittelradioaktiven Abfällen – zum Beispiel kontaminierte Teile aus dem Rückbau der Atomkraftwerke wie Teile des Generators – stellt die Verantwortlichen vor Herausforderungen. Nach Schätzungen des BASE gibt es in Deutschland etwa 620.000 Kubikmeter davon.

Umweltministerin Steffi Lemke zufolge sollen davon rund 300.000 Kubikmeter in das Endlager Schacht Konrad eingelagert werden. «Dieses Volumen entspricht ungefähr dem Inhalt von 100 olympischen Schwimmbecken», sagte die Grünen-Politikerin kürzlich. Es bräuchte also einen großen, abgesicherten Lagerraum. Die Abfälle für Schacht Konrad verteilten sich auf über 30 Zwischenlager im ganzen Land. Für die restlichen Kubikmeter der schwach- und mittelradioaktiven Abfälle müssen noch Möglichkeiten zur Endlagerung gefunden werden.

Können die Abfälle nicht einfach in den Zwischenlagern bleiben?

Nur Endlager in tiefen geologischen Schichten gelten als dauerhaft sichere Lösung. «Beton, Stacheldraht und Wachmannschaften» könnten dies nicht ersetzen, sagt BASE-Präsident König. Tiefliegende Gesteine böten eine natürliche Barriere, die vor Strahlung schützt.

Was passiert nach der Abschaltung mit dem Gelände eines AKWs?

Atomkraftgegner fordern immer wieder «blühenden Wiesen», die nach dem Abbau eines Kernkraftwerks das Land wieder in seinen natürlichen Zustand zurückbringen sollen. Doch das ist nicht so leicht. Denn das Gebäude kann nicht einfach abgerissen werden, solange sich radioaktive Elemente darin befinden. Wurden die Brennelemente entfernt, sind die Aktivitätsmengen jedoch nur noch gering – beispielsweise, wenn der Reaktordruckbehälter selbst radioaktiv geworden ist. Das BASE rechnet mit rund 15 Jahren für den Abbau eines Meilers, bis er aus der atomrechtlichen Überwachung entlassen werden kann. Hinzu kommen noch etwa zwei Jahre für den Abriss der Gebäude. Nach der Planung des Betreibers RWE wird die Anlage Emsland beispielsweise im Jahr 2037 nachweislich frei von jeder Radioaktivität sein.

Gibt es international Vorbilder bei der Stilllegung von Meilern?

Die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) in Wien zählte 2021 zwar weltweit 198 abgeschaltete oder in Stilllegung befindliche Atomkraftwerke, doch nur bei 20 davon ist die Stilllegung schon komplett abgeschlossen. In einigen Ländern fehlen noch die Ressourcen und Strukturen dafür. So werden beispielsweise auch in Schweden, Finnland oder der Schweiz nach Endlagern im Untergrund gesucht. Dem Umweltministerium zufolge gibt es in Europa und weltweit noch kein betriebsbereites Endlager für hochradioaktive Abfälle aus der friedlichen Nutzung der Atomenergie.

Wer bezahlt den Atomausstieg?

Der Atomausstieg wird kostspielig – so viel steht fest. Eine Kommission hat die Gesamtkosten unter anderem für Stilllegung und Rückbau der Meiler sowie die Transporte und die Lagerung der Abfälle auf 48,8 Milliarden Euro geschätzt. Daraufhin wurde ein Fonds eingerichtet, in den die Betreiber der Atomkraftwerke einzahlen mussten. Aus diesem Betrag soll die Zwischen- und Endlagerung bezahlt werden. Die Energieversorger sind auch für die Kosten von Stilllegung und Rückbau der Meiler verantwortlich. RWE zufolge schwanken die Kosten für den Nachbetrieb und Rückbau eines Kernkraftwerks je nach Größe, Alter und Betriebsstunden der Anlagen zwischen 500 Millionen und 1 Milliarde Euro.

Bundestag stimmt Weiterbetrieb von drei Atomkraftwerken zu

Berlin (dpa) – Der Bundestag hat den vorübergehenden Weiterbetrieb der letzten drei deutschen Atomkraftwerke zur Sicherung der Stromversorgung beschlossen.

Die Meiler Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland sollen damit bis zum 15. April kommenden Jahres in Betrieb bleiben, wie der Bundestag mit den Stimmen der Ampel-Fraktionen SPD, Grüne und FDP in Berlin beschloss. Im Zuge des Atomausstiegs hätten die Kraftwerke eigentlich zum Jahresende abgeschaltet werden sollen.

In namentlicher Abstimmung votierten 375 Abgeordnete für die Änderung des Atomgesetzes, dagegen stimmten 216, 70 enthielten sich. 661 Stimmen wurden abgegeben. In der Ampel gab es bei den Grünen 9 Nein-Stimmen und eine Enthaltung. Die SPD- und FDP-Abgeordneten stimmten geschlossen für die Verlängerung der Laufzeiten. Weiterlesen

Krieg gegen die Ukraine: So war die Lage am Morgen

Kiew (dpa) – Nach der erneuten Notabschaltung des von russischen Kräften besetzten Kernkraftwerks Saporischschja in der Ukraine bleibt die Lage dort äußerst gespannt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hielt Moskau vor, das größte AKW Europas sei wegen russischer Provokationen zum zweiten Mal «nur einen Schritt von einer nuklearen Katastrophe entfernt» gewesen. Die Internationale Atomenergiebehörde IAEA will heute Bericht erstatten, was ihre Erkundungsmission nach Saporischschja erbracht hat.

Für die Ukraine ist heute der 195. Tag des Abwehrkampfes gegen die russische Invasion. Einer der energischsten Unterstützer der Ukraine, der britische Premierminister Boris Johnson, wird sein Amt an Liz Truss übergeben – die neue Chefin der Konservativen Partei. Weiterlesen

Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage

Kiew (dpa) – Die Ukraine kann im Streit um das russisch besetzte Atomkraftwerk Saporischschja auf die breite Unterstützung westlicher Staaten zählen. 42 Länder und die EU veröffentlichten in Wien eine Erklärung, in der sie den sofortigen Abzug der russischen Truppen von dem Kraftwerk und eine Rückgabe der Kontrolle an die Ukraine forderten.

In der Stadt Enerhodar, die direkt an dem AKW liegt, schlugen wieder Artilleriegeschosse ein. Die Ukraine und Russland werfen sich seit Wochen gegenseitig vor, Europas größtes Kernkraftwerk zu beschießen und damit eine atomare Katastrophe heraufzubeschwören. Weiterlesen

Bundesamt kartiert Radioaktivität um Tschernobyl

Salzgitter (dpa) – Erstmals seit mehr als 30 Jahren haben Experten aus Deutschland und der Ukraine die Radioaktivität in der Sperrzone um die Reaktorruine von Tschernobyl flächendeckend neu kartiert.

Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) in Salzgitter veröffentlichte erste Ergebnisse in zwei Übersichtskarten – kurz vor dem 36. Jahrestag der Reaktorkatastrophe am 26. April 1986. Fachleute des Bundesamtes und der Staatlichen Agentur der Ukraine zur Verwaltung der Sperrzone hatten für die Karten die Strahlung um das havarierte sowjetische Atomkraftwerk im vergangenen September vor dem Krieg Russlands gegen die Ukraine gemessen.

Die neuen Karten seien aktueller und räumlich besser aufgelöst als die letzten Darstellungen aus den 1990er Jahren, teilte die Behörde mit. Demnach bestätigen die aktualisierten Daten die bisherigen Erkenntnisse aus den Jahren nach dem Unglück. Vor allem nach Norden und Westen breiteten sich radioaktive Stoffe aus dem Reaktor aus. Weiterlesen

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