Superstreiktag legt Deutschland lahm

Von Matthias Arnold und Basil Wegener, dpa

Berlin (dpa) – Deutschland dürfte an diesem Montag in weiten Teilen ins Verkehrschaos stürzen. Mit einem doppelten Warnstreik wollen die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) und Verdi den Verkehr weitgehend lahmlegen. Ausfälle und Verspätungen betreffen Millionen Reisende und Pendler – Überblick über eine beispiellose Eskalation:

Welche Bereiche werden betroffen sein?

Der öffentliche Verkehr in großem Umfang – und mit bestimmten Autobahnen auch Teile des Autoverkehrs. Die EVG bestreikt die Bahn, so dass der Betrieb im Fern-, Regional-, und S-Bahn-Verkehr stillsteht. «So gut wie kein Eisenbahnverkehr» werde möglich sein, sagt Bahn-Personalvorstand Martin Seiler. Bestreikt werden in großem Umfang die deutschen Flughäfen – laut Flughafenverband ADV können etwa 380.000 Geschäfts- und Privatreisende nicht abheben. Etwa am größten Airport in Frankfurt kommt der Passagierverkehr zum Erliegen. Stark eingeschränkt werden soll auch die Binnenschifffahrt.

Was ist im Nahverkehr geplant?

Hier soll in sieben Bundesländern so gut wie nichts mehr gehen – in Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen und in Bayern. Bereits Anfang März hatte Verdi in diesen Ländern Busse, Bahnen, Straßenbahnen zum Stillstand gebracht.

Was kommt auf Autofahrerinnen und Autofahrer zu?

Geschlossene Tunnel – aber zunächst war noch nicht klar, wo genau. «Wir werden bestimmte Tunnel in den Blick nehmen», kündigte Verdi-Vize Christine Behle an. Diese würden geschlossen – die Durchfahrt sei faktisch dann unmöglich. Als Beispiel nannte Behle den Elbtunnel in Hamburg.

Wann beginnt der Großstreik genau?

In der Nacht auf Montag um 00.00 Uhr soll es losgehen – 24 Stunden soll der Ausstand andauern. EVG-Chef Martin Burkert empfahl Reisenden ausdrücklich, am Sonntag rechtzeitig am Ziel zu sein. Auf offener Strecke sollen Reisende aber nicht stranden. «Wir werden keinen Fahrgast aus dem Bus werfen», sagte Behle.

Was bedeutet der Streik für die Schifffahrt?

Schleusen auf wichtigen Wasserstraßen und etwa der Hamburger Hafen sollen bestreikt werden. Bestimmte Bereiche seien dann komplett blockiert, der Hamburger Hafen werde für große Schiffe teils nicht mehr erreichbar sein.

Gab es schon derartige Gemeinschaftsstreiks?

Ja, Anfang der 1990er Jahre. Damals wurden während eines sogar mehrwöchigen Streiks der Nah- und Fernverkehr sowie Flughäfen in ganz Deutschland gleichzeitig bestreikt. Dabei handelte es sich aber um einen regulären Arbeitskampf – nicht um Warnstreiks.

Sind koordinierte Warnstreiks aus zwei Tarifrunden ungewöhnlich?

«Das ist eine ungewöhnliche Sache», sagte der Tarifexperte Thorsten Schulten der Deutschen Presse-Agentur. Wenn zwei Gewerkschaften feststellten, dass sie parallel in ähnlichen Bereichen verhandeln, sei ein gemeinsames Vorgehen aber naheliegend. Ein großer Warnstreik zum Start einer Verhandlungsrunde signalisiere den Arbeitgebern: «Wir meinen es ernst, und die Beschäftigten stehen hinter uns.»

Bleibt ein Streiktag dieses Ausmaßes einmalig?

Das ist offen. Die Gewerkschaften zeigen sich äußerst entschlossen. «Wir können streiken», betonte Verdi-Chef Frank Werneke. Tarifexperte Schulten erwartet aber derzeit eher, dass der gemeinsame Streiktag «erst einmal eine punktuelle Aktion» bleibt, wie der Forscher des Instituts WSI der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung sagt. Schließlich gebe es keine gemeinsame Planungsinstanz bei verschiedenen Gewerkschaften.

Warum gibt es den Superstreiktag?

Aus Sicht der Gewerkschaften zeigen die Arbeitgeber in mehreren Tarifrunden zu wenig Bewegung. Mit der Großaktion am Montag lassen sie pünktlich zur dritten Verhandlungsrunde für den öffentlichen Dienst die Muskeln spielen. Für die 2,5 Millionen Beschäftigte von Bund und Kommunen verlangen Verdi und der Beamtenbund dbb 10,5 Prozent mehr Einkommen, mindestens aber 500 Euro mehr im Monat. Die EVG kämpft derweil mit mehreren Unternehmen um mehr Geld – besonders im Blick: die Deutsche Bahn.

Wie reagieren die Arbeitgeber auf die Ankündigungen?

Mit heftiger Kritik. «Nicht ok» ist die massive Ankündigung für die Präsidentin der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA), Karin Welge. Welge argumentiert, dass ein Ergebnis schließlich in der dritten Runde in Potsdam gefunden werden könne. Auch Bahn-Personalvorstand Seiler forderte «eine zügige Lösung» statt eines großen Warnstreiks.

Welche Szenarien gibt es?

Für den öffentlichen Dienst erinnert Tarifexperte Schulten an den Ablauf bei der Post: Hier hatten sich die Verdi-Mitglieder bereits per Urabstimmung für einen unbefristeten Streik ausgesprochen. Doch dann folgte kurzerhand eine weitere Verhandlungsrunde – und eine Einigung. So etwas sei auch beim öffentlichen Dienst denkbar. Falls es in Potsdam kommende Woche keine Einigung gibt, würde aber wohl zuerst der Versuch einer Schlichtung unternommen, meint Schulten.

EU-Kandidat Ukraine? Das Wichtigste im Überblick

Brüssel (dpa) – Korruption auf höchster Ebene, Defizite bei Rechtsstaatlichkeit und schwerwiegende wirtschaftliche Probleme: Noch Anfang dieses Jahres schien es undenkbar, dass die Ukraine in absehbarer Zeit Kandidat für den Beitritt zur EU werden kann.

Knapp vier Monate nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen das osteuropäische Land ist die Welt nun eine ganz andere. Aller Voraussicht nach wird die EU-Kommission an diesem Freitag eine Empfehlung abgeben, die in der Ukraine für Freude und Erleichterung sorgen dürfte.

• Was genau legt die EU-Kommission heute vor?

Die Behörde von Präsidentin Ursula von der Leyen wird nach wochenlanger Analyse eine Stellungnahme zu der Frage abgeben, ob das Land den Status als EU-Beitrittskandidat bekommen sollte. Damit hatte sie der Rat der EU-Staaten im März beauftragt.

• Wie wird die Empfehlung der Kommission ausfallen?

Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur aus der Nacht wird sich die Behörde unter der Leitung von Ursula von der Leyen voraussichtlich dafür aussprechen, der Ukraine den Status als EU-Beitrittskandidaten zu geben. Zugleich dürfte nach Angaben aus Kommissionskreisen klar gemacht werden, dass weitere Fortschritte im Beitrittsprozess an konkrete Bedingungen geknüpft werden sollten. Dabei geht es demnach um Fortschritte bei Rechtsstaatlichkeit und im Kampf gegen Korruption.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist zu Gesprächen über den EU-Beitrittsantrag der Ukraine in Kiew eingetroffen. Foto: Natacha Pisarenko/AP/dpa

• Was bedeutet der Status als EU-Kandidat?

Ohne diesen Status geht auf dem Weg in die EU gar nichts. Er ist Voraussetzung dafür, dass zu einem späteren Zeitpunkt die Beitrittsverhandlungen zum Club der derzeit 27 Länder beginnen können. Außerdem berechtigt der Status zu sogenannter Heranführungshilfe: Geld aus dem EU-Haushalt, das etwa den Wandel der Gesellschaft, des Rechtssystems und der Wirtschaft der Länder auf dem Weg in EU unterstützen soll.

• Wird ein Kandidat auf jeden Fall irgendwann EU-Mitglied?

Nein, der Kandidatenstatus sagt über einen Beitritt noch gar nichts aus und ist auch nicht mit einem Zeitplan verbunden. Beispiel Türkei: Das Land ist seit 1999 EU-Beitrittskandidat – und war wohl noch nie so weit von einer Mitgliedschaft entfernt wie heute. Relevant ist auch, dass jeder Schritt der Annäherung immer wieder einstimmig von der EU-Staaten beschlossen werden muss.

• Welche Bedingungen muss ein Land für den EU-Beitritt erfüllen?

Relevant sind vor allem die sogenannten Kopenhagener Kriterien, die 1993 bei einem EU-Gipfel in der dänischen Hauptstadt festgelegt worden sind. Zu ihnen gehören:

– Institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten

– Eine funktionsfähige Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der EU standzuhalten

– Die Fähigkeit, alle Pflichten der Mitgliedschaft – das heißt das gesamte Recht sowie die Politik der EU (den sogenannten «Acquis communautaire») – zu übernehmen, sowie das Einverständnis mit den Zielen der Politischen Union und der Wirtschafts- und Währungsunion

Zudem müssen Kandidatenländer das äußerst komplexe und umfassende EU-Recht anwenden können und gewährleisten, dass wirksam durch nationale Verwaltung und Justiz umgesetzt wird. Auch muss die EU selbst in der Lage sein, neue Länder aufzunehmen und zu integrieren.

• Können diese Voraussetzungen in absehbarer Zeit erfüllen werden?

Das ist äußerst unwahrscheinlich. Der Europäische Rechnungshof stellte dem Land noch im vergangenen September ein verheerendes Zeugnis aus. «Obwohl die Ukraine Unterstützung unterschiedlichster Art vonseiten der EU erhält, untergraben Oligarchen und Interessengruppen nach wie vor die Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine und gefährden die Entwicklung des Landes», hieß es damals zu einem Sonderbericht.

Zwar hätten EU-Projekte und EU-Hilfe dazu beigetragen, die ukrainische Verfassung sowie eine Vielzahl von Gesetzen zu überarbeiten. Die Errungenschaften seien allerdings ständig gefährdet, und es gebe zahlreiche Versuche, Gesetze zu umgehen und die Reformen zu verwässern. Das gesamte System der strafrechtlichen Ermittlung und Strafverfolgung sowie der Anklageerhebung bei Korruptionsfällen auf höchster Ebene sei alles andere als gefestigt.

• Wie geht es nach der Empfehlung der EU-Kommission weiter?

Bereits die nächste Woche könnte entscheidend werden. Donnerstag und Freitag werden die Staats- und Regierungschefs zum EU-Gipfel nach Brüssel kommen und versuchen, eine gemeinsame Haltung zu finden.

• Wird es eine Einigung geben?

Das ist alles andere als sicher. Die Positionen der Mitgliedstaaten lagen zuletzt weit auseinander. Staaten wie Polen, Estland, Litauen, Lettland oder Irland dringen seit Wochen darauf, die Ukraine zügig zum EU-Kandidaten zu machen. Skeptisch sind aber etwa Portugal, die Niederlande und Dänemark. Ein Argument der Erweiterungsgegner ist, dass die EU mit ihrem Prinzip der Einstimmigkeit etwa in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik schon jetzt als schwerfällig gilt. Sie mahnen zunächst interne Reformen an, ehe neuen Mitgliedern die Tür geöffnet wird.

Zudem gibt es Länder wie Österreich, die fordern, dass auch Bosnien-Herzegowina den Kandidaten-Status bekommen muss, wenn ihn die Ukraine bekommt.

• Wie ist die Position der Bundesregierung?

Bundeskanzler Olaf Scholz und der französische Präsident Emmanuel Macron kündigten am Donnerstag bei einem Besuch in Kiew Unterstützung für den Wunsch der Ukraine an, Beitrittskandidat zu werden. «Deutschland ist für eine positive Entscheidung zugunsten der Ukraine», sagte Scholz.

• Welche Länder streben noch in die Europäische Union?

Bereits Beitrittskandidaten sind neben der Türkei die Länder Albanien, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien. Hinzu kommen Bosnien-Herzegowina und das Kosovo als sogenannte potenzielle Kandidaten. Kurz nach der Ukraine hatten sich im März zudem auch Georgien und Moldau beworben. Für diese beiden Länder will die EU-Kommission heute ebenfalls ihre Empfehlung vorlegen. Moldau dürfte dabei ähnlich gut wegkommen wie die Ukraine. Georgien muss hingegen damit rechnen, dass es den Kandidaten-Status erst nach der Erfüllung von Auflagen bekommt.

• Welche Bedeutung hat der Kandidaten-Status für die Ukraine?

Eine mögliche Annäherung an die EU hat für das Land im Krieg mittlerweile überragende Bedeutung gewonnen. Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärt dies immer wieder zu einer historischen Frage. Zugleich betont er, dass die Ukraine gegen Russland auch die EU und deren Werte verteidige. Die kalte Schulter der EU wäre wohl auch für die Moral der kämpfenden Ukrainer ein herber Rückschlag – und ein Glücksfall für Russlands Präsidenten Wladimir Putin.

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