Blinder Jurist erster Vorsitzender Richter am Landgericht

Von Carsten Linnhoff und Dieter Menne, dpa

Ulrich Badde ist blind. In Nordrhein-Westfalen ist er einer der ersten Juristen, der als Vorsitzender Richter an einem Landgericht eine Kammer leitet. Beim Aktenstudium bekommt er Hilfe, auch bei der Fahrt in die Psychiatrie.

Wie soll sich ein blinder Richter die Akte eines psychisch Kranken anschauen? Für das Prüfen einer Akte gibt es viele Hilfsmittel. Für den betroffenen Patienten aber war die Vorstellung geradezu absurd. Ulrich Badde ist einer der ersten Vorsitzenden Richter an einem Landgericht in Nordrhein-Westfalen, der als Blinder diesen Karriereschritt an die Spitze einer Kammer geschafft hat. Über das Erlebnis in der Psychiatrie kann er heute schmunzeln. Und einen sehenden Kollegen schicken.

Badde kann sich den Wortlaut vom Computer vorlesen lassen. Auch hat der Jurist eine Assistentin, die ihm beim Studium der Akte durch den Wust von Anwaltsschreiben und Urteilen aus der ersten Instanz hilft. Dafür braucht der Richter im Landgericht Münster seine Augen nicht.

Für den Patienten in einer Psychiatrie war dieser Gedanke allerdings unvorstellbar. Ein normaler Unterbringungsfall, psychotisch, selbstgefährdend, erzählt Badde im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Der Besuch vom Landgericht war dem Mann zuvor angekündigt worden. «Ich musste hin und fahre raus. Am Arm meine Assistentin. Bin noch nicht ganz im Zimmer, da schreit der Patient: Ihr müsst doch was im Kopp haben, der kann doch nicht mal alleine laufen! Wie liest Du denn eine Akte? Du?», erzählt Badde.

Der Patient litt an Konkretismus. «Vergleichbar mit dem Asperger-Syndrom. Diese Menschen können nicht im übertragenen Sinne denken. Vor der Anhörung wurde ihm gesagt, der Richter will Sie noch einmal sehen, will sich ein Bild von Ihnen machen. Interessant, wie unsere Sprache auf das Sehen abgestimmt ist. Für den Patienten aber war klar, dass ich ihn nicht sehen konnte. Und ich sollte über ihn entscheiden?»

Fälle wie in der Psychiatrie sind aber nicht der Alltag. «Bei den psychisch Kranken habe ich oft das Gefühl, dass mein Blindsein nicht schädlich ist. Ich bilde mir ein, dass das Vertrauen aufbaut. Es ist mir vertraut, etwas anders zu sein.» «Meine Kammer ist zuständig für Beschwerden gegen Beschlüsse der Amtsgerichte, also in der zweiten Instanz. Was die Rechtsgebiete angeht, ist das ein totaler Gemischtwarenladen, der Alptraum für neue Kollegen», sagt Badde. Dabei geht es um Unterbringungen von psychisch Kranken, um Insolvenzverfahren oder die Entscheidung über Betreuervergütungen.

Beim Aktenstudium oder dem Schreiben von Entscheidungen bekommt der Vorsitzende Richter Hilfe. Zum Beispiel von Stephanie Connor. Die Justizbeschäftigte bildet mit ihrem Chef ein eingespieltes Team. Sie teilt sich die Assistenz mit zwei weiteren Kolleginnen. Und nicht nur dann, wenn Badde in eine Klinik fahren muss. «Ich habe damit jeden Tag jemanden zur Verfügung, der mich unterstützt.»

Die Umstellung an den Gerichten in NRW auf digitale Aktenführung spielt dem Juristen bei der täglichen Arbeit in die Karten, ist aber noch im Umbruch. Das Landgericht in Münster hat im Oktober 2021 auf die E-Akte umgestellt. Die Amtsgerichte fangen zum Teil jetzt erst an.

Aus der Papierakte muss die Assistenz Badde klassisch vorlesen. «Ich mache mir dabei meine Notizen für das, was ich glaube zu brauchen. Ab und zu schaue ich später nochmals mit der Assistenz rein, wenn es neue Aspekte, neue Blickwinkel gibt.»

Für Badde ist klar, dass er auch weiterhin Hilfe benötigt, auch wenn die E-Akte komplett eingeführt ist. Neu sei, dass die Assistenz dabei hilft, die Dokumente fertig zu machen, sie in die richtige Form zu bringen. Klassischer Fall Durchsuchungen: «Da bekommen sie locker zehn Akten. Das ist kein Jura am Hochreck. Da müssen sie schauen, das schnell zu erfassen. Da ist es mit Vorlesen nicht getan. Da hilft es extrem, wenn die Assistentin weiß, was brauche ich, wo finde ich was?»

Badde schreibt seine Texte selbst, arbeitet nicht mit einem Diktiergerät. Die Spracherkennung überzeugt ihn noch nicht. Wenn aus der Begutachtung eine Schlachtung wird, wie einem Kollegen passiert, «dann tippe ich lieber selber».

Der Richter ist seit seinem zweiten Lebensjahr blind. Die Entscheidung für den Job des Juristen fiel kurz vor dem Abitur. Eigentlich wollte er Journalist werden. Auf der Suche nach einem für eine Journalistenschule vorgeschriebenen Praktikumsplatz gibt ihm ein Redaktionsleiter im Bewerbungsgespräch den wertvollen Rat: Eignen sie sich ein fundiertes Fachwissen über ein Studium an. «Suchen Sie sich was aus, woran Sie Spaß haben.» Da war ich frustriert. Da musste ich alles neu überlegen. Da bin ich auf Jura gekommen. Das Thema Blindheit war in dem Gespräch zum Praktikum nur am Rande ein Thema. «Wir könnten das möglich machen, aber ich halte das nicht für sinnvoll.»

Baddes Vater hat ebenfalls Jura studiert. «Für mich war klar, dass Jura vom Aufbau her ein Studium ist, was sie als Blinder ohne große Probleme machen können.» Chemie mit Laborarbeit – da wäre der Hindernisparcours wohl größer geworden, vermutet der Jurist, der seine zwei Examen mit Prädikat abgelegt hat.

Die Uni Münster sei gut vorbereitet gewesen. «Ich war bei Weitem nicht der erste blinde Jura-Student. Es gab vom Fachbereich eine Stelle mit einer Hilfskraft zur Unterstützung von Blinden. Später wurde das ausgebaut für Schwerbehinderte. Ich habe im Wohnheim mit einer Rollstuhlfahrerin gewohnt.»

Der 45-Jährige will die Gesellschaft ermuntern, die Unsicherheit ihm gegenüber abzulegen und zum Beispiel Fragen zu stellen wie Kinder es tun. «Kinder sind im positiven Sinne schmerzbefreit», sagt der Jurist. Er freut sich, wenn die Menschen die Scheu gegenüber Blinden verlieren und Unsicherheiten zugeben.

Anwalt zu werden konnte er sich nicht vorstellen. Als Blinder Mandanten für sich zu gewinnen, das Risiko wollte er nicht eingehen. Badde zog es in den Staatsdienst oder in ein Unternehmen. In Mainz machte er einen Zusatzstudiengang Medienrecht. Über eine Bewerbung beim Oberlandesgericht in Hamm landet Badde dann in Münster. Gab es Anlaufprobleme? «Die Zusammenarbeit war immer gut. Jeder Richter hat das Gefühl, jetzt habe ich lange studiert und ein Referendariat gemacht, warum kann ich eigentlich gar nix? Das hat bei mir vielleicht etwas länger angehalten als bei den sehenden Kollegen.»

Von Anfang an hatte er eine Assistentin. «Ein blinder Kollege hatte aufgehört als ich kam. Er war auch Richter im Strafvollstreckungsbereich.» Vollständig blinde Kollegen gibt es nach seinen Informationen drei in NRW. «Und einen sehbehinderten Kollegen. Der blinde Richter ist nicht die absolute Ausnahme», sagt der Jurist.

Claudia Middendorf (CDU) ist die Behindertenbeauftragte der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen. «Beim Thema inklusiver Arbeitsmarkt sind wir bedauerlicherweise noch nicht so weit, wie ich es mir als Landesbehinderten- und -patientenbeauftragte wünschen würde, wenngleich die Zahl der Beschäftigten mit Behinderungen zunimmt», sagt Middendorf der dpa. Die Anzahl der Arbeitsplätze für blinde und sehbehinderte Menschen sei ausbaufähig.

Beim Landgericht in Münster fühlte sich Badde stets gut unterstützt. «Das kann ich dieser Behörde attestieren. Geglaubt an mich haben sie hier immer. Wenn Du das möchtest, probieren wir das, war immer die Aussage.»

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