Fukushima und die seelischen Wunden unserer Jugendlichen

Wittlich. 1986 war das Jahr von Tschernobyl, 2011 ist das Jahr von Fukushima. An der unrühmlichen Rolle des Rainer Brüderle ist ein Teil der Schwierigkeiten ablesbar, die diese Katastrophe auch ausgewachsenen Männern und Frauen macht. Wie umgehen mit einer Strahlung, die sich auf dem gesamten Erdball verteilen wird? Die Jahrhunderte und Jahrtausende Schäden an Leib und Leben für Mensch und Tier verursacht? Die das Dogma von der immerwährenden Verfügbarkeit jedweder Energie ins Wanken bringt?

Wie sieht es dieser Tage in den Herzen und Köpfen von Heranwachsenden aus? Haben sie Menschen, die sie in ihrer Not begleiten? Teilen sie sich überhaupt mit? Oder ist Japan so weit entfernt, sind die Japaner so fremd, dass es sie nicht sonderlich betrifft? Und wie denken sie über die Zukunft der Atomenergie? Wir durften uns mit Mädchen und Jungs aus den beiden zehnten Klassen der Realschule Plus unterhalten. Und stießen auf erstaunlich gut informierte, stinksaure junge Menschen, die viel nachgedacht haben und weiterhin viel nachdenken werden – und die sich die Hoffnung auf ihre eigene, schöne Zukunft nicht haben nehmen lassen.

Fast alle wünschen sich irgendwann Kinder, auch im Angesicht des Elends, das sie täglich auf den Bildschirmen sehen. Die einen, aktive Fußballer, gedachten in einer Schweigeminute am Wochenende der Opfer des Erdbebens. Andere, aktive Musikanten in der schulischen Arbeitsgemeinschaft, denken über ein Benefiz-Konzert nach. Nur eine Handvoll Schüler plädiert nach Fukushima noch dafür, weiter auf Atomkraft zu setzen: Sie argumentieren mit dem Portemonnaie, befürchten steigende Strompreise, wenn man alle AKW‘s abstellt, glauben an die Abhängigkeit der Industrienationen von der Kernkraft. Sie wissen, dass viele Kilometer Leitungsnetz fehlen. Ohne deutschen Atomstrom, fürchten sie, würde in Stoßzeiten eben derselbe aus Frankreich oder sonst woher hergenommen. Man sollte weltweit aussteigen aus dieser Technik: Nur das würde etwas bringen.

Nichts ist bombensicher

Die überwältige Mehrheit würde bereitwillig den Preis zahlen, den es vielleicht kostet, komplett auf regenerative Energien umzustellen. Neben möglichen Naturkatastrophen, dem strahlenden Müll, für den noch nirgends ein Endlager existiert, und der Tatsache, dass Salz wasserlöslich ist und damit – natürlich – auch unsere Zwischenlager nicht sicher sind, erinnert Monique daran: „Kein Atomkraftwerk ist bombensicher.“ Mit Terrorangriffen sind diese Sechzehn- und Siebzehnjährigen groß geworden: Anschläge auf die Twin Tower von New York, auf die Londoner U-Bahn und US-Botschaften rund um den Globus sind andere Damoklesschwerter dieser Generation. 

Sie sind hervorragend informiert, diese Jugendlichen. Unverständlich finden die  meisten, überhaupt Atomkraftwerke in Japan zu bauen, wenn doch fast täglich Erdbeben die Inseln erschüttern. Dass genau vor der Haustür in Mülheim-Kärlich, auch dieses AKW für Millionen damals noch Deutschen Mark, mitten auf erdbebengefährdeten Grund gebaut und in den 80er Jahren nach zweijährigem Probe- und genau 100-tägigem Regelbetrieb wieder abgeschaltet wurde, lässt sie ungläubig den Kopf schütteln.

Dass Dänemark in windigen Zeiten seinen überschüssigen Windstrom nach Norwegen transportiert, dort Pumpwasserspeicher einschaltet und den Strom bei Bedarf wieder abruft, ist ihnen sympathisch. Auch das, was Lehrerin Helma Thelen-Oberbillig ihnen während des Gespräches berichtet: Dass zwar im Augenblick die energetischen Verluste noch enorm sind, wenn Strom weite Strecken überwinden muss. Die Technik stehe aber schon in den Startlöchern, die diese Verluste auf schlappe 3 Prozent herunter fahren könne.

Sie finden entsetzlich, was sie allabendlich im Fernsehen mitkriegen. Herumirrende Menschen in den Trümmern, die Erdbeben und Tsunami hinterlassen haben. Die tausend Fragen kleinerer Geschwister, die noch gar keine Schutzmechanismen zur Verfügung haben, um das Elend in der Welt bewältigen zu können. Besonders leidet in diesen Tagen ein Mädchen, dessen Freundin erst kürzlich ein Jahr in Japan verbrachte und die via skype im ständigen Kontakt mit den dortigen Familien steht. Nicole bekundet ihren Respekt vor der großen Ruhe, mit der die Japaner ihre Situation meistern – oder zu meistern scheinen?

Wer würde wagen, darauf eine endgültige Antwort zu geben. Denn vieles ist eine Mentalitätsfrage. Inzwischen hört man sogar von Anti-Atomkraft-Demonstrationen in Tokio, einer der technik-gläubigsten Städte der Welt. Die man schlichtweg nicht evakuieren kann, auch das wissen die Schüler. Immerhin sollte man die Überlebenden besser informieren, fordern die Zehntklässler, die sich selbst nur äußerst mangelhaft informiert fühlen. Vom japanischen Regierungssprecher sowieso, da sind sie sich einig. Viel mehr halten sie jedoch auch nicht von der deutschen Informationspolitik.

Konkret darauf angesprochen, erklären sie mit überwältigender Mehrheit, dass sie auch den deutschen Informationen misstrauen. Diese überwältigende Mehrheit käme, wenn am Sonntag Wahl wäre, etwa 90 Prozent gleich. Und wie sagte es Kujtim noch: „Lieber ein bisschen mehr Geld bezahlen als ein zweites Fukushima erleben müssen.“   

Bald wählen sie mit

„Die Menschen hätten vielleicht nicht so schlau werden sollen“, sinniert eine Schülerin. Eine andere wiederum findet die Menschen „blöde“, die ausgerechnet in Japan AKW‘ s bauen. Und ungerecht ist die Welt sowieso, den einen geht es gerade so schlecht und uns so gut… Allein gelassen scheint keiner in dieser Runde. Sie sprechen untereinander, miteinander, sie schauen im besten Fall, wie Monique, im Schoße einer großen Familie die Nachrichten auf guten TV-Sender, die gibt es ja schließlich auch.

Axel übrigens fordert, die Verantwortlichen für Fukushima zu verklagen. Keine schlechte Idee, die Unterzeichner weitreichender Entscheidungen persönlich in Haftung zu nehmen. Nur, wer ist das in diesem Fall? Politiker? Manager? Aktienhalter? Die gesammelte Atomlobby? Der Diskussionsstoff wird ihnen nicht ausgehen, den jungen Frauen und Männern, die da in diesen Tagen aus der Schule ins Leben ziehen. Und die bei nächster Gelegenheit mit an den Urnen sein werden – als Wahlvolk, das endlich ernst genommen und umfassend, zeitnah und objektiv informiert werden will.

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