Willibald Kirfel

Es gibt genug gute Gründe, sich mit Indien zu beschäftigen. Indien gehört zu den Nationen, die das 21. Jahrhundert maßgeblich prägen werden. Schon heute leben weit mehr als eine Milliarde Inder und alle fünf Jahre nimmt die Bevölkerung Indiens etwa um die Einwohnerzahl Deutschlands zu. Im Jahr 2025 wird es vermutlich mehr Inder als Chinesen geben. Über diese aktuelle Bedeutung hinaus zählen die Kulturen Indiens zu den ältesten und eindrucksvollsten überhaupt.

Noch vor den Griechen formulierten indische Denker hoch komplexe religiöse und philosophische Vorstellungen. Unter den modernen Europäern waren es gerade deutsche Gelehrte, die wesentlich zur Erforschung dieser altindischen Zivilisationen beigetragen haben und damit ihrerseits wiederum die europäische Kultur vielfältig beeinflussten. Im 20. Jahrhundert wurde ein Eifler zu einem der international führenden Indologen: Willibald Kirfel, Sohn eines Volksschullehrers aus dem heute zu Hellenthal gehörenden Reifferscheid.

Der 1885 geborene Willibald besuchte drei Jahre lang die Rektoratsschule Schleiden, dann ab 1900 das Gymnasium. Nach dem Abitur studierte er in Bonn orientalische Sprachen und katholische Theologie. Was genau den Eifler zur damals noch als exotisch empfundenen Beschäftigung mit Indien veranlasste, ist nicht bekannt. Möglicherweise ließ er sich von Berichten von Missionaren inspirieren, vielleicht aber auch von Abenteuer- und Reiseerzählungen. Fest steht jedenfalls, dass er in einem geistig regen Elternhaus aufwuchs. Unter den Eifler Volksschullehrern gab es etliche beeindruckend vielseitige Persönlichkeiten und Willibalds Vater Johann gehörte sicherlich dazu. Lehrer Kirfel dirigierte in Reifferscheid viele Jahre lang den Kirchengesangverein und gestaltete mit der Gründung eines Musikvereins und der Ortsgruppe des Eifelvereins maßgeblich das Dorfleben. Man kann sich vorstellen, wie stolz er und seine Frau Anna Maria (geb. Huy) waren, als ihr Sohn mit 23 Jahren mit einer Arbeit zur Grammatik des Altindischen zum Doktor der Philosophie promoviert wurde. Die Sorge, ob mit einem solchen Spezialfach auch der Lebensunterhalt bestritten werden könne, dürfte sich erst gelegt haben, als Dr. Kirfel 1911 Bibliothekar der Uni-Bibibliothek Bonn wurde. Für ihn war dies der richtige Job, um „nebenbei“ weiter seine wissenschaftliche Karriere zu betreiben. Ergebnis langjähriger Studien war das 1920 erschienene Meisterwerk:  „Die Kosmographie der Inder nach den Quellen dargestellt“, mit dem er sich habilitierte. Johann Kirfel (1854–1923) konnte noch erleben, dass sein Sohn 1922 ordentlicher Professor für Indologie in Bonn wurde und damit nun den renommierten ältesten deutschen Lehrstuhl für dieses Fach innehatte. Willibalds Mutter Anna Maria (1856–1942) war es sogar noch vergönnt, den Aufstieg ihres Sohnes zu einem international bekannten Gelehrten zu erleben und lange dessen Weg als Familienvater verfolgen zu können. Kirfel hatte am Vorabend des Ersten Weltkriegs geheiratet und war in erster Ehe Vater von fünf Kindern geworden; 1944 ging der 59-Jährige eine zweite Ehe ein, die aber kinderlos blieb. Harald Kirfel, der Erstgeborene, wurde wie sein Vater Wissenschaftler, beherrschte Chinesisch und Japanisch und verfasste wichtige Werke zum chinesischen Recht.

Kennzeichnend für die geistige Welt Willibald Kirfels war die Verbindung von indologischen Spezialstudien mit allgemeinen kulturgeschichtlichen Zusammenhängen. Sein Spezialgebiet war die Erforschung der Puranas, die zu den bedeutsamsten heiligen Texten des Hinduismus gehören, aber ihn faszinierte beispielsweise nicht weniger der Zusammenhang zwischen altindischer und europäischer Medizin oder die Verbindungslinien zwischen indischer und europäischer Religiosität. Der weite geistige Horizont des Eiflers Kirfel verhinderte dabei, dass er sein Gebiet über alles stellte. So bezweifelte Kirfel keineswegs, dass die altindische Kultur ihrerseits stark von derjenigen der semitischen Babylonier beeinflusst war – Erkenntnisse, die in der Nazi-Zeit Vertretern arischer Überlegenheitsideen nicht geschmeckt haben. Zahlreiche biographische Artikel Kirfels in Lexika dokumentieren, wie wichtig ihm die gerechte Würdigung der Leistung anderer war. Die bald nach Kirfels Tod (1964) im Westen sich mächtig ausbreitende Indien-Begeisterung hätte den großen Indologen wohl gefreut. Vermutlich wäre er aber mancher Guru-Begeisterung gegenüber eiflerisch-zweiflerisch geblieben.

Verfasser: Gregor Brand

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