Theodore Dreiser

Gespannt wartete die literarische Öffentlichkeit im Jahr 1930 auf die Verleihung des Nobelpreises. Man war sich zwar ziemlich sicher, dass den bekanntesten Literaturpreis der Welt erstmals ein Amerikaner erhalten würde, wusste aber nicht, ob Sinclair Lewis oder Theodore Dreiser (1871 – 1945) das Rennen machen würden. Als die Entscheidung auf Lewis fiel, war die Enttäuschung in der amerikanischen Fachwelt spürbar groß. Zu deutlich war vielen bewusst, dass der anstößigere Theodore Dreiser die neuere amerikanische Literatur am stärksten geprägt und dauerhaft verändert hatte. Sinclair Lewis erkannte dies in seiner Nobelpreis-Dankesrede offen an. Dreiser habe der modernen amerikanischen Literatur den Weg gebahnt: „Ohne seine Pionierleistung könnte keiner von uns – es sei denn, er wollte im Gefängnis landen – ausdrücken, was Leben, Schönheit und Schrecken bedeutet.“ Dreiser hatte als Vorreiter des amerikanischen Naturalismus handfesten Realismus in die US-Literatur eingebracht: Schonungslose Schilderung der sozialen Wirklichkeit, lebensnahe Darstellung von Frauen als Hauptfiguren seiner Romane („Sister Carrie“, „Jennie Gerhardt“), offener Umgang mit dem Thema Sex. Die revolutionäre Rolle des in einer Kleinstadt in Indiana (USA) geborenen Dreiser verglich H. L. Mencken, selbst eine Ikone der US-Literatur, mit Darwins Bedeutung für die Biologie.

Der Mann, dem solche Lobeshymnen galten, war Sohn eines Eifelers. Sein Vater Johann Paul Dreiser hatte als junger Mann Mayen verlassen und war 1844 in die USA eingewandert. Die genauen Gründe dafür sind nicht bekannt. Es wird spekuliert, ob er sich dem Militärdienst entziehen wollte. Vielleicht war es ihm daheim aber auch nur zu eng geworden: Sein Vater hatte aus 2 Ehen mehr als 20 Kinder. Johann Paul, der in den USA als Müller seine Familie zunächst erfolgreich, nach Schicksalsschlägen aber nur mühsam, ernähren konnte, stand dem kaum nach: Aus seiner Ehe mit einer deutschstämmigen Amerikanerin gingen 13 Kinder hervor, von denen Theodore das zweitjüngste war. Fest steht, dass der Vater des Schriftstellers immer positiv von seiner Heimat erzählte und „Mayen“ für die Dreiser-Kinder ein sehr vertrauter Name war. 1911 unternahm der 40-jährige Theodore eine große Europa-Reise, die ihn gezielt auch in die Eifel führte. In einem voluminösen Reisebuch schildert er im 72. Kapitel seinen kurzen Aufenthalt in der Heimat seiner Ahnen. Dreiser empfand Mayen als angenehm alt, ruhig und still, aber auch fern vom modernen Fortschritt. Die Einwohner verglich er mit Kartoffeln: schwerfällig, phlegmatisch, sehr einfach – aber nützlich. Obwohl er bei seinem schlecht vorbereiteten Besuch keine Verwandten antraf, war alles in Mayen höchst interessant für ihn. Bei jedem Schritt dachte er mit Rührung daran, dass hier einst auch sein Vater gegangen war.

Ein Eifeler Erbe, mit dem sich der sensible Theodore äußerst schwer tat, war der strenge Katholizismus seines Vaters. Für die katholischen Schulen, auf die Paul Dreiser seine Kinder schickte, hatte er nur Zorn und Verachtung übrig. Der rigiden katholischen Sexualmoral setzte der kinderlos verheiratete Liebhaber sehr junger Mädchen sowohl in seinem Werk als auch in seiner affärenreichen Lebensführung eine Freizügigkeit entgegen, die ihm den Ruf eines amoralischen und obszönen Autors einbrachte. Dreiser, in der von Angelsachsen dominierten US-Kulturszene ohnehin lange ein Außenseiter, legte generell wenig Wert auf Anpassung. Den Kapitalismus beurteilte er sehr kritisch und für die Oktoberrevolution entwickelte er starke Sympathien; gegen Ende seines Lebens wurde er sogar kommunistisches Parteimitglied. In den US-Medien machte ihn dies nicht gerade populärer, aber sein Ansehen blieb enorm: Die Nobelpreisträger O‘Neill und Faulkner kritisierten öffentlich, dass Dreiser nicht mit dem Preis ausgezeichnet wurde. 1999 wählten Literaturexperten zwei – auch verfilmte – Dreiserbücher zu den 35 besten englischsprachigen Romanen des 20. Jahrhunderts. Angesichts der extremen Konkurrenz auf diesem Gebiet war dies eine phänomenale Ehrung. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass 2005 eine neue Biographie über T. Dreiser mit dem Titel „Der letzte Titan“ erschien. Ob nun Titan oder „nur“ berühmter Schriftsteller: Zur modernen westlichen Kultur – und damit auch Weltkultur – hat dieser Sohn eines Eifelers einen bemerkenswerten Beitrag geliefert.
 
Verfasser: Gregor Brand
 

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