Vom literarischen Abenteuer, ein Ganzes zu fassen

Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk und die Jakobsbücher beim Eifel-Literatur-Festival

Das Warten hat sich gelohnt: Fans des Eifel-Literatur-Festivals, die Pandemie bedingt lange auf inspirierende persönliche Begegnungen mit Autorinnen und Autoren verzichten mussten, konnten nun in Bitburg wieder eine literarische Sternstunde genießen. Zum fünften Mal in seiner Geschichte begrüßte das Festival eine mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnete Persönlichkeit, die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk.

Wer ist diese Frau, die die Nobelpreis-Kommission mit „Die Jakobsbücher“ überzeugte, einem 1184 Seiten starken Werk, an dem sie acht Jahre gearbeitet hat, und das Festivalleiter Dr. Josef Zierden als „literarisches Riesengebirge“ benennt, das es zu erklimmen gelte? Zunächst eine gewinnende Persönlichkeit, die mit einer Ausstrahlung von Bodenhaftung, Natürlichkeit und Klarheit sofort alle Sympathien auf sich zieht. Hat der Nobelpreis-Erfolg ihr Leben verändert? Ja, sie habe mehr Bücher verkauft, viele anstrengende Lesereisen unternommen, eine Stiftung gegründet – und schmerzlich erfahren, dass ihr kaum noch Zeit bleibe zu schreiben. Erst im Lockdown habe sie wieder die Ruhe gefunden, zur der für ihr Leben enorm wichtigen Tätigkeit zurückzufinden. „Als besonders belastend habe ich den Erwartungsdruck der Kritik empfunden, dass ich nun unglaublich tiefe Dinge schreibe. Meine einzige Freiheit ist zu sagen: ich muss diese Erwartungen nicht erfüllen“, erzählt Olga Tokarczuk in ihrer polnischen Muttersprache. Die Übersetzung leistet ihr Begleiter, Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Lothar Quinkenstein. Er hat gemeinsam mit Lisa Palms, die krankheitsbedingt nicht dabei ist, auch „Die Jakobsbücher“ ins Deutsche übertragen. Bevor dieses Buch erörtert wird, erfährt das Publikum, was Tokarczuk beim Schreiben bewegt und welche Kernthemen ihr Gesamtwerk bestimmen. Aufgewachsen im Kommunismus und in der Provinz hatte sie schon früh Lektüre als Zugang zu alternativen Welten entdeckt.

Es wuchs eine tiefe Liebe zur Literatur und daraus die Frage: „Wie geht das, eine Geschichte und ihre Figuren zu konstruieren?“ Eine Frage, der sie sich jüngst noch im Essayband „Übungen im Fremdsein“ widmete. Aus der Umgebung, in der sie lebe, Niederschlesien, schöpfe sie die Energie für ihr schriftstellerisches Tun, und auch die Themen, erzählt Tokarczuk. Denn die besondere Historie von Vertreibung und Umsiedlung der dortigen Menschen sowie die Nähe der Grenze zu Tschechien, verlange ständige Auseinandersetzung, besonders mit dem Phänomen Grenze. Grenzen empfinde sie als willkürliche und scharfe Trennung zwischen Landschaften und Menschen. Als zweite große Faszination benennt sie das Thema Mobilität: „Den Ort wechseln zu können, ist für mich die wesentliche Definition der Freiheit“. Sie selbst reist bevorzugt mit dem Auto, hat gemeinsam mit ihrem Ehemann auch die 900 Kilometer von Breslau nach Bitburg darin zurückgelegt: „Wir bewegen uns damit auf der Erdoberfläche, haben die Möglichkeit, an Orten anzuhalten, sie wahrzunehmen – und unserer Bindung intensiviert sich“.

Mobilität, Thema auch im Buch „Unrast“, verbindet Tokarczuk mit Reflexionen über unsere aktuelle Befindlichkeit: „Alles geht zu schnell, Informationen kommen in solcher Fülle, dass wir sie nicht verarbeiten können, wir stehen vor einer Welt, die in Stücke gegangen ist, aus Fragmenten und Blasen besteht“. Sie finde es notwendig, die Welt noch einmal als Ganzes zu fassen, denn unser Verstand komme mit Chaos nicht zurecht. Sie habe versucht, dafür eine literarische Form zu finden, den „Konstellationsroman“, der Fragmente auffädele: „So, wie der Nachthimmel verstreute Sterne zeigt, wir bei Betrachtung aber die Konstellationen sehen und sie in mythologische Geschichten einbetten“.

Das Werk, in dem all das zusammenfließt, und das deshalb als Opus Magnus bezeichnet werden kann, ist „Die Jakobsbücher“. Lothar Quinkenstein berichtet, dass die Übersetzung zwei Jahre gedauert hat, in denen er kein anderes Projekt bearbeiten konnte: „Es war ein außergewöhnliches Abenteuer, für mich das mit Abstand intensivste und inspirierendste Ereignis. Wir haben danach die Welt mit anderen Augen gesehen.“ Ausgangspunkt war ein Fund in einem Antiquariat. Olga Tokarczuk fielen Schlüsseltexte der messianischen Bewegung um Jakob Frank in die Hand, eines Juden, der sich im 18. Jahrhundert zu einem schillernden und angebeteten, aber auch verdammten Grenzgänger zwischen den Religionen entwickelte. Sie habe damit einen Schatz gehoben, sagt die Autorin. Der offenbar aktiv in die Vergessenheit verdrängten historischen Figur forschte sie in Archiven nach, barg Fakten und stellte sich der Herausforderung aus all den Fragmenten eine fiktive Geschichte zu formen. Sie habe verschiedene Erzählperspektiven, benötigt, nicht zuletzt, weil die Beschäftigung mit Jakob Frank, den die ausgebildete Psychologin Tokarczuk als soziopathische Persönlichkeit mit dämonischen Zügen beschreibt, in ein ausgesprochen ambivalentes Verhältnis zu dieser Figur mündete.

Entstanden ist eine Lebensgeschichte über 50 Jahre, eine Schilderung der Welt im Umbruch an der Schwelle zur Aufklärung und eine Auseinandersetzung mit der jüdischen Mystik. Tatsächliche Gegebenheiten und mindestens 30 Personen, die sich durchaus hätten begegnen können, tauchen auf, doch die Jakobsbücher sind eine ganz eigene Komposition aus diesen Fragmenten. Das alles erfahren die Zuhörenden im Dialog zwischen der Autorin und dem Übersetzer sowie aus Lesepassagen, die jeweils in Polnisch und Deutsch vorgetragen werden. Am Ende wird deutlich, dass Tokarczuk mit den Jakobsbüchern ein außerordentlich vielschichtiges, sprachphilosophisches Werk vorgelegt hat, das nichts weniger als die drängenden metaphysischen Fragen der Menschheit behandelt und damit in unserer heutigen Umbruchszeit höchst aktuell ist. Die Autorin selbst merkt scherzhaft an: „Die Lektüre kann zum Ausgangspunkt eigener Suche werden und in die Wikipedia -Welt führen, ein Stichwort leitet zum nächsten. Der Roman ist aber auch ohne Wikipedia lesbar.“ Viel zu schnell geht die Zeit um und der Abend mit der Nobelpreisträgerin und ihrem profunden Übersetzer schließt mit Beifall, anregenden Nachgesprächen und einer ausgedehnten Signierstunde.

Anke Emmerling

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