Nach Erdbeben: Entspannung zwischen Ankara und Athen?

Von Alexia Angelopoulou, Takis Tsafos und Anne Pollmann, dpa

Ankara/Athen (dpa) – Damit hätte vor zwei Wochen niemand gerechnet: Als Athens Außenminister Nikos Dendias als erster EU-Politiker ins Erdbebengebiet reiste, fielen sich er und sein türkischer Amtskollege Mevlüt Cavusoglu am Flughafen der völlig zerstörten Stadt Antakya geradezu in die Arme.

«Wir sollten nicht bis zum nächsten Erdbeben warten, um unsere bilateralen Beziehungen zu verbessern», sagte Cavusoglu nach dem emotionalen Moment. Das zerrüttete Verhältnis der Länder – sie streiten um Hoheitsrechte und Erdgasvorkommen in der Ägäis und im östlichen Mittelmeer – dürfte auch Thema beim Besuch von US-Außenminister Antony Blinken am Sonntag in der Türkei und danach in Athen sein. Doch was steckt hinter der «Erdbeben-Diplomatie»?

Wieso sollte ein Erdbeben etwas ändern?

Das Phänomen «Erdbebendiplomatie» gab es bereits einmal: Nach je einem schweren Beben im August und September 1999 in der Türkei und in Griechenland mit vielen Toten schickten sich beide Länder sofort gegenseitige Hilfe. Die Trauer um die Opfer und das Entsetzen über die Naturgewalt verbanden: Eine Phase der Annäherung begann mit zahlreichen politischen und privaten Treffen. Medien beider Länder schrieben häufig wohlwollend übereinander. Man kam sodann sogar bei einem der ewigen Streitthemen überein: Der Zwist um ungeklärte Hoheitsgebiete in der Ägäis sollte bilateral bis 2004 gelöst werden – oder man werde gemeinsam vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag ziehen und auf diese Weise eine friedliche Lösung herbeiführen.

Was ging schief?

Die Tauwetterstimmung kippte: In der Türkei löste Recep Tayyip Erdogan 2003 den Ministerpräsidenten Bülent Ecevit ab, in Griechenland folgte auf den verbindlichen Sozialdemokraten Kostas Simitis 2004 der konservative Ministerpräsident Kostas Karamanlis. Vor allem Karamanlis gilt als der «Erfinder der Unbeweglichkeit», wie ihn jüngst eine griechische Zeitung nannte. Er trieb die Annäherung nicht voran, um sich innenpolitisch keiner Kritik auszusetzen.

Warum eskalierte der Konflikt in den vergangenen Jahren?

Eine massive Verschlechterung begann laut griechischen Analysten mit dem gescheiterten Militärputsch in der Türkei gegen Präsident Erdogan 2016. Von da an habe Erdogan überall Feinde gesucht und auch geschaffen, heißt es in Athen. Der türkische Präsident bediene sich oft einer Freund-Feind-Logik, um die Reihen hinter sich zu schließen, sagen auch türkische Beobachter.

Ein zentrales Thema spielt auch die Entdeckung großer Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer. Wiederholt schickte Ankara Bohr- und Forschungsschiffe in Seegebiete, die nach internationalem Recht zu Griechenland gehören. Nach diplomatischen Annäherungen Athens an die USA war dann bei Erdogan im vergangenen Frühjahr das Fass voll: Er kenne den griechischen Regierungschef Kyriakos Mitsotakis nicht, sagte er, und brach die Verbindung zum Nachbarland ab. Erdogan störte sich vor allem daran, dass sich Mitsotakis angesichts der türkischen Überflüge über griechisches Gebiet in den USA dafür eingesetzt hatte, dass Washington keine weiteren Kampfjets an Ankara verkaufen solle.

Hoheitsrechte in der Ägäis – was hat es damit auf sich?

Athen hat etliche griechische Inseln gegenüber der türkischen Westküste seit Jahrzehnten militarisiert, obwohl internationale Verträge das verbieten. Griechenland verweist auf Drohungen aus der Türkei und das Recht auf Selbstverteidigung. Die Türkei wiederum spricht Griechenland mittlerweile die Souveränität über diese Inseln ab, eben weil sie widerrechtlich militarisiert sind und eine Bedrohung darstellten. Nachdruck verleiht Ankara der Kritik, indem türkische Kampfjets regelmäßig griechischen Luftraum verletzen und zum Teil über bewohnte Inseln fliegen. Die Türkei behauptet, damit auf Überflüge der Griechen zu reagieren. Wiederholt drohte Erdogan zudem, man könne «eines Nachts kommen». Die EU hat dieses Gebaren mehrfach verurteilt, auch bei der Nato ist man nicht glücklich über die Streitigkeiten zwischen den beiden Nato-Mitgliedern.

Was seit dem Erbeben verändert?

Vor allem in der Bevölkerung überwiegt auf beiden Seiten der Zusammenhalt in dieser schwierigen Situation. Griechenland war eines der ersten Länder, das Helfer ins Erdbebengebiet schickte – es gibt in beiden Ländern wegen der hohen Erdbebengefahr viel Know-how für den Ernstfall. Der griechische Staatssender ERT machte seine Nachrichtensendung mit einem türkischen Lied auf, eine Geste, die viele Menschen in der Türkei berührte und würdigend tausendfach in den sozialen Netzwerken geteilt wurde. Die Menschen in Griechenland sammeln Hilfsgüter, es wurden zahlreiche Lieferungen geschickt.

Wieso besteht Hoffnung?

Das Treffen zwischen den Außenministern Cavusoglu und Dendias war ein erster großer Schritt. Auch gab es seit dem Erdbeben kaum mehr Verletzungen des griechischen Hoheitsgebiets durch türkische Jets, die zuvor fast täglich stattfanden. Allerdings fragen sich Experten, wie lang solch ein Burgfrieden anhalten kann, da die konkreten Konflikte ja nicht gelöst sind. Regierungschef Mitsotakis jedenfalls hat Hoffnung: Das Erdbeben mit seinen «unermesslichen Zerstörungen» könne eine Gelegenheit sein, die Beziehungen neu zu definieren, sagte er am Donnerstag.

Was bedeutet der Besuch von US-Außenminister Blinken?

Nach Ansicht von Analysten dürfte Blinken versuchen, beide Länder wieder an einen Tisch zu bekommen. Für die USA sind beide Länder geostrategisch wichtig. Vor allem mit Griechenland gab es zuletzt eine verstärkte militärische Zusammenarbeit, US-Basen unter anderem auf Kreta und in Mittel- sowie Nordgriechenland wurden auf- und ausgebaut. Zudem schwächt der Streit der Nachbarländer die Südostflanke der Nato. Das kann das Militärbündnis in Zeiten des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine nicht brauchen.

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«Mama nach Deutschland holen»: Frust nach Erdbeben

Von Yuriko Wahl-Immel und Mirjam Schmitt, dpa

Leverkusen/Istanbul (dpa) – Die Angst um ihre Angehörigen im türkischen Katastrophengebiet bringt Suna Cataldegirmen im weit entfernten Deutschland zur Verzweiflung. Ihr Mann ist schon vor einer Woche in die Türkei geflogen: in die schwer getroffene Provinz Kahramanmaras. Dort hat er für seine Eltern in einem Dorf nahe der Stadt Pazarcik eine Notbehausung in einem Keller eingerichtet.

«In dem Dorf ist alles weg», berichtet die 43-jährige Cataldegirmen. «Unsere Verwandten leben fast alle in Zelten. Die hygienischen Zustände sind schlimm, sie können nicht duschen, manchmal reicht das Essen nicht. Es ist sehr kalt. Es gibt kaum ärztliche Versorgung.»

«Lieber Gott, bitte lass die Babys leben»

So oft wie möglich telefoniert die in Leverkusen wohnende Frau mit ihren Verwandten, die Handyfotos voller Schuttberge und von elenden Lebensumständen senden. Große Sorgen macht sich die 43-Jährige auch um vier Babys. «Eines hatte schon Durchfall und Fieber. Lieber Gott, bitte lass die Babys leben.» Bei den verheerenden Erdbeben sind in der Türkei und in Syrien nach offiziellen Angaben mehr als 42.000 Menschen ums Leben gekommen, Millionen haben ihr Zuhause verloren.

Cataldegirmens Freundin kann aus Sorge um ihren Neffen, dessen Frau und die Zwillingsbabys kaum noch schlafen. In Gölbasi in der Provinz Adiyaman übernachten ihre vier Angehörigen derzeit mit vielen weiteren obdachlos gewordenen Erdbebenopfern in einer übervollen Sporthalle, wie Sevil Kurtal der Deutschen Presse-Agentur schildert.

Babynahrung für die acht Monate alten Säuglinge bereiten sie mit geschmolzenem Schnee zu. Sevil Kurtal will sie zu sich holen in ihre Wohnung nahe Köln – aber das ist schwierig.

«Sie weint nur noch»

Serkan Sayin aus dem westfälischen Ahlen bangt um seine 81 Jahre alte Mutter, deren Haus in Iskenderun in der Provinz Hatay einsturzgefährdet sei. «Sie weint nur noch. Ich will meine Mama nach Deutschland holen.» Sie ist alleinstehend, lebt in einer Notunterkunft.

Jetzt Visa, Pässe, biometrische Fotos oder andere Dokumente für eine Einreise nach Deutschland von den Erdbebenopfern anzufordern, sei unmöglich. «Das ist zu viel verlangt.»

Der Kölner Ingenieur Ispir Bayrakcioglu kann nur noch an seine Lieben in der Türkei denken. Sein Stiefbruder ist eine Woche nach den Beben mit dem Auto aufgebrochen, konnte inzwischen zu fünf Angehörigen in Hatay gelangen. Die Brüder wollen ihre Verwandte da rausholen. «Unsere Angehörigen sind zu 100 Prozent in Not. Sie haben kein Wasser, keine Toiletten, keine Schlafmöglichkeiten.» Er kritisiert eine «schwierige Prozedur mit 1000 Bedingungen» für eine Aufnahme in Deutschland – extreme Hürden, meint er.

«Sicherheitsgarantien für alles Mögliche»

Sein Bruder habe im Konsulat in Ankara das Visumsverfahren für die Angehörigen angestoßen. «Ich soll verschiedene Sicherheitsgarantien für alles Mögliche geben. Das ist doch Quatsch.» Es sei selbstverständlich, sich um die Verwandten zu kümmern, sagt er.

Die Bundesregierung hat ein unbürokratisches Visaverfahren angekündigt, damit Erdbebenopfer schnellstmöglich in Deutschland unterkommen können. Betroffene brauchen laut Auswärtigem Amt ein Visum, wenn sie bei ihren Angehörigen ersten oder zweiten Grades für bis zu drei Monate leben wollen. Das aufnehmende Familienmitglied muss eine Erklärung abgeben, in der es sich verpflichtet, für den Lebensunterhalt und die spätere Ausreise aufzukommen.

Mehmet Demir aus Dinslaken bemängelt: «Das Ganze ist total kompliziert.» Der Reiseunternehmer ist gerade aus der Türkei zurückkehrt, viele seiner Angehörigen haben bei der Katastrophe ihr Leben verloren. Seine Nichte sei aus Trümmern gerettet worden.

«Keine Connections, keine Chance»

Die 16-Jährige und die Schwiegereltern will er zu sich holen, hat sie zunächst in ein Hotel in Antalya gebracht. Um die Visa zu beantragen, habe er es telefonisch in Antalya versucht, sei nach Izmir, dann auf eine Webseite verwiesen worden. «Keine Ansprechpartner. Wenn man keine Connections hat, hat man keine Chance», beklagt Demir.

In der Türkei werden Visaanträge für Deutschland vom Dienstleister iData bearbeitet. Die nächste Filiale in der Erdbebenregion – Gaziantep – ist aber wegen Gebäudeschäden dicht. Antragsteller müssen etwa nach Izmir oder Ankara ausweichen, wobei Ankara rund 600 Kilometer vom Epizentrum Kahramanmaras entfernt liegt. Abhilfe solle bald kommen, sagt ein Mitarbeiter vor Ort der dpa.

Auf deutscher Seite braucht es für die Verpflichtungserklärung noch die Ausländerbehörden am Wohnort. Da habe er noch keinen Termin bekommen, berichtet Demir. Auch in Leverkusen konnte die Erklärung von Sevil Kurtal für ihre vier Verwandten nur am Empfang der Behörde abgegeben werden, zu sprechen war niemand. Zu viel Andrang.

Jetzt zermürbe das Warten, erzählt Cataldegirmen. Großartige Hilfen wie für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, die unkompliziert einreisen dürfen und staatlich unterstützt werden, sollten auch Erdbebenopfern aus der Türkei und aus Syrien zugutekommen, findet die Pflegerin.

«Für meine Mama würde ich auf dem Boden schlafen»

Beim NRW-Flüchtlingsministerium heißt es, das Land habe die Ausländerbehörden angewiesen, eine Verlängerung bestehender Touristenvisa großzügig zu prüfen. Das solle Bürgern aus den Erdbebengebieten helfen, die sich schon vor dem Beben mit einem Visum in NRW aufhielten – damit sie noch etwas länger bleiben können. Unter allen Bundesländern leben die meisten Menschen mit türkischen Wurzeln in Nordrhein-Westfalen.

In Hamburg atmet Zöhre Karali einerseits auf: «Meine Eltern und meine zwei Geschwister leben.» Aber: «Sie wissen nicht, wie es weitergeht. Sie brauchen Gewissheit. Einige Verwandte werden noch vermisst.» Zugleich trauert Karali um Verstorbene.

Serkan Sayin würde seine Mutter am liebsten sofort persönlich aus dem Katastrophengebiet nach Ahlen bringen. Er schafft es kaum noch, Geduld aufzubringen. Seine Wohnung, in der er mit Frau und zwei Kindern lebt, sei nicht groß, sagt er: «Aber für meine Mama würde ich auf dem Boden schlafen, sie könnte sofort mein Bett haben.»

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Afghanische Frauen fordern mehr Einsatz für ihre Rechte

Genf (dpa) – Die Unterdrückung von Frauen und Mädchen in Afghanistan droht nach Befürchtung von Aktivistinnen in Vergessenheit zu geraten. Die internationale Gemeinschaft müsse mehr tun, verlangten sie auf einer Geberkonferenz zur Finanzierung von Schulprogrammen für Kinder in Notsituationen. «Sonst geraten die Mädchen bald in Vergessenheit», sagte Friedensnobelpreisträgerin und Kinderrechtsaktivistin Malala Yousafzai aus Pakistan in einer Videobotschaft. «Nur reden und nichts tun, reicht nicht aus», sagte die 20-jährige Somaya Faruqi, Kapitänin des afghanischen Robotik-Frauenteams, am Donnerstag in Genf.

Faruqi konnte Afghanistan nach der Machtübernahme der islamistischen Taliban im Sommer 2021 verlassen. Die Taliban grenzen Mädchen und Frauen immer weiter vom gesellschaftlichen Leben aus. Sie dürfen keine weiterführenden Schulen mehr besuchen und dürfen sich nicht mehr zu Aufnahmeprüfungen an Universitäten anmelden. Weiterlesen

Rettung nach zehn Tagen – wie überleben Menschen das?

Adana (dpa) – Auch nach zehn Tagen unter Trümmern werden immer noch Menschen lebend gerettet, wie etwa die Istanbuler Feuerwehr berichtet. Dass dies möglich sei, liege vor allem am Wetter, sagte der Vize-Vorsitzende der türkischen Ärztekammer in Adana, Ali Ihsan Ökten, der dpa am Donnerstag. «Die Körperfunktionen der Verschütteten fährt bei dem Wetter runter», so rette sich der Körper selbst. Wäre die Katastrophe im Sommer passiert, hätten Menschen niemals so lange ohne Wasser überleben können. In Antakya etwa steigen Temperaturen im Hochsommer häufig auf mehr als 30 Grad. Weiterlesen

Mehr als 42.000 Erdbeben-Tote – Weiter Suche nach Vermissten

Von Anne Pollmann und Cindy Riechau, dpa

Istanbul/Damaskus (dpa) – Zehn Tage nach den heftigen Erdbeben in der Türkei und in Syrien bergen Einsatzkräfte noch immer viele Leichen aus den Trümmern. Mehr als 42.000 Tote wurden bislang in beiden Ländern gezählt. Der türkische Katastrophendienst Afad meldete am Donnerstag, 36.187 Menschen seien durch die Erdstöße getötet worden. Aus Syrien meldete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zuletzt 5900 Tote. Afad zufolge gab es bislang mehr als 4300 Nachbeben.

Die türkische Regierung erhöhte zudem die Zahl der von der Erdbebenkatastrophe betroffenen Provinzen von zehn auf elf. Auch die osttürkische Provinz Elazig gelte auf Anweisung des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan nun offiziell als Katastrophengebiet. Ob damit auch der Ausnahmezustand für diese Provinz verhängt wurde, war zunächst nicht klar.

Rettung eines 13-Jährigen nach 228 Stunden

Noch immer gehen spektakuläre Berichte über späte Rettungen von Verschütteten um die Welt. In der Stadt Antakya befreiten Einsatzkräfte der Feuerwehr aus Istanbul eigenen Angaben zufolge einen 13-jährigen Verschütteten nach 228 Stunden. Auf einem Video ist zu sehen, wie Mustafa auf einer Trage aus den Trümmern gebracht wird. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.

In den sozialen Medien teilen derweil viele Menschen Suchanzeigen in der Hoffnung, ihre Angehörigen in Krankenhäusern wiederzufinden. Mehr als 13 000 bei dem Beben Verletzte werden noch in Krankenhäusern behandelt, sind aber teilweise nicht identifizierbar, wie ein Krankenhausmitarbeiter in Adana der dpa sagte. Vielerorts wurde auch die Infrastruktur zur Krankenversorgung stark beschädigt.

US-Außenminister Antony Blinken will auf seiner Europa-Reise am 19. Februar auch in die Türkei fahren, um die Hilfsanstrengungen nach den schweren Erdbeben in Augenschein zu nehmen. Danach wird Blinken in Ankara mit seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu zu treffen, wie das US-Außenministerium mitteilte. Die USA haben für die Erdbebenhilfe in der Türkei und Syrien umgerechnet knapp 80 Millionen Euro zugesagt.

Kinder spenden ihr Taschengeld

In Syrien trafen am Donnerstag weitere Hilfslieferungen ein, darunter aus Saudi-Arabien, dem Irak und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Unterstützung kam auch von unerwarteter Seite: Kinder aus der syrischen Stadt Rakka spendeten ihr Taschengeld für ihre Altersgenossen im Erdbebengebiet. Die Aktivisten der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte veröffentlichten ein Video, das zeigte, wie die jungen Helferinnen und Helfer auch Schilder mit Grußworten in die Kamera hielten. «Was dich getroffen hat, hat auch uns getroffen», ist darauf etwa zu lesen.

Die derzeit geleistete Hilfe kann den enormen Bedarf der Bevölkerung nach Einschätzung der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen nicht decken. Die Erdbeben hätten in Syrien mehr als 1700 Gebäude komplett sowie mehr als 5700 teilweise zerstört. Die Organisation rechnet auch mit einem deutlich erhöhten Bedarf an psychosozialer Beratung nach der Erdbebenkatastrophe. Die Suizidrate sei bereits «in den vergangenen Jahren aufgrund der prekären Lebensbedingungen und der Perspektivlosigkeit gestiegen.» Die Organisation warnte wegen des Mangels an sauberem Wasser zudem vor Cholera-Ausbrüchen.

Bundesregierung plant Visa-Erleichterungen

Arabische Medien berichteten unterdes, dass nach den Erdbeben immer mehr Syrer die Türkei verlassen. Fast 1800 Menschen seien in ihre Heimat zurückgekehrt. Insgesamt waren in den vergangenen Jahren rund 3,6 Millionen Menschen vor Bomben und Gewalt ins Nachbarland geflüchtet. Nach den Beben wollen aber viele wieder bei ihren Familien sein, obwohl die Kriegsgefahr längst noch nicht gebannt ist.

Auch in Deutschland ist die Betroffenheit nach der Katastrophe groß. Die Bundesregierung plant Visa-Erleichterungen für Erdbeben-Opfer aus der Türkei. Kritiker bemängeln jedoch, dass für die Drei-Monats-Visa zur Aufnahme bei Verwandten in Deutschland zum Beispiel ein gültiger Pass und ein biometrisches Foto benötigt werde. Dies sei angesichts der Zerstörung in den betroffenen Gebieten oft nicht zu beschaffen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser wies die Kritik zurück. «Mehr können wir an dieser Stelle an Erleichterung kaum machen», sagte sie der «hessenschau extra» im Hessischen Rundfunk. Man werde aber gegebenenfalls nachbessern, etwa beim Personal der Ausländerämter.

Am frühen Montagmorgen vor gut einer Woche hatte ein erstes Beben der Stärke 7,7 um 2.17 Uhr (MEZ) die Südosttürkei erschüttert, Stunden später folgte ein zweites schweres Beben der Stärke 7,6.

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Schule als Rettungsanker in Not: UN-Fonds braucht Spenden

Von Christiane Oelrich, dpa

Genf (dpa) – Schule ist in Kriegszeiten oder Krisensituationen wie Erdbeben für Millionen Kinder ein Rettungsanker. Sie brauchen sichere Zufluchtsorte, geregelte Abläufe im Chaos und natürlich Unterricht. In Genf sollen bei einer Geberkonferenz der Vereinten Nationen an diesem Donnerstag 1,5 Milliarden US-Dollar (ca. 1,4 Mrd. Euro) zusammengebracht werden, um allen Minderjährigen weltweit auch in Krisenzeiten sichere Räume, Betreuung und Unterricht zu ermöglichen.

«Die Kinder haben die Krisen auf der Welt nicht verursacht, aber sie leiden am meisten darunter», sagte Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD), die an der Konferenz teilnimmt, der Deutschen Presse-Agentur. «Weltweit sind 222 Millionen Kinder im Schulalter von Konflikten, Dauerkrisen und Notsituationen betroffen – drei Mal so viele wie noch 2016. Wir können es uns nicht leisten, diese Generation zu verlieren.»

Deutschland gibt am meisten

Die deutsche Regierung ist der mit Abstand größte Geber. «Sie hat es uns ermöglicht, sieben Millionen Kindern unter den schwierigsten Bedingungen hochwertigen Unterricht zu ermöglichen», sagte die Exekutivdirektorin des UN-Fonds Education Cannot Wait (ECW – Bildung kann nicht warten), Yasmine Sherif, der dpa.

Fatuma (9) zum Beispiel hat in der von Dürre geplagten Somali-Region von Äthiopien ständig in Angst vor marodierenden Banden gelebt. Die Familie mit fünf Kindern wurde ständig vertrieben. Nun hat sie einen Ort mit relativer Ruhe gefunden, wo das Mädchen erstmals zu einer Schule geht, die der Fonds finanziert hat, mit einer warmen Mahlzeit pro Tag und sauberem Wasser – keine Selbstverständlichkeit in der Region. Fatuma lernt fleißig, wie der Fonds berichtet. «Wenn ich groß bin und ausgelernt habe, will ich Lehrerin werden», sagt sie.

Bildung oft keine Priorität

Wenn Kinder bei Katastrophen wie Erdbeben oder durch Konflikte in die Flucht geschlagen werden, geht es erstmal ums nackte Überleben. Schule gehört oft nicht zu den Prioritäten. Das hat fatale Folgen, oft ein Leben lang, weil Menschen in eine Armutsfalle geraten.

«Klar braucht man zum Überleben erstmal Essen, sauberes Wasser, medizinische Versorgung, ein Dach über dem Kopf», sagte Sherif. «Aber zum Überleben braucht man auch Hoffnung, und die kommt mit Bildung.» Mädchen würden in der Schule vor sexueller Gewalt geschützt, Jungen, die zur Schule gingen, schlössen sich weniger oft Milizen oder Banden an. Und: «Wir reden immer von Würde und dass die Menschen sich langfristig selbst helfen können müssen. Wie soll das gehen, wenn sie nicht lesen und schreiben können?», sagte Sherif.

Weniger Einkommen wegen verlorener Schuljahre

Nyota (13) aus der Demokratischen Republik Kongo hat einen Überfall auf ihr Dorf überlebt, bei dem das Haus der Familie niedergebrannt wurde und der Vater und mehrere Brüder ums Leben kamen. Sie lebt nun in einem Vertriebenencamp. Dort hat der Fonds eine Schule finanziert, wo Nyota ihren Traum hegt: «Wenn ich meine Ausbildung fertig habe, will ich Präsidentin werden, um den Krieg zu beenden, damit Kinder in Frieden lernen können und nicht Horror erleben müssen wie ich.»

Bildungsexperten gehen davon aus, dass jedes verlorene Schuljahr die Einkommensmöglichkeiten später um rund zehn Prozent mindert. Hinzu kommt, dass Eltern mit mehr Schulwissen über Gesundheit, Hygiene und Nahrung gesündere Familien großziehen.

Kein Geld für Schuluniformen oder Material

Roho (13) aus Äthiopien wurde in einer Konfliktregion als kleines Kind vertrieben. Der Vater verließ die Familie, die Mutter stand mit acht Kindern alleine da. Roho musste auf dem Feld mitarbeiten. Für Schuluniformen und Material war nie Geld da. Jetzt lernt sie in einem vom Fonds unterstützten speziellen Programm für Ältere, die den Stoff von drei Schulklassen innerhalb von Monaten durchnehmen. Sie ist hoch motiviert: «Ich will Ingenieurin werden», sagt sie. Es gibt auch Bildungsprogramme per Radio für Kinder fernab von Schulen.

Der Fonds schätzt, dass weltweit 222 Millionen Kinder und Jugendliche in Notsituationen nicht oder nur eingeschränkt zur Schule gehen können. Das Geld geht in 44 Ländern an lokale Partner – nie Regierungen, wie Sherif betonte. Sie bauen Schulen und sorgen für Unterrichtsmaterial, Schulspeisung und psychosoziale Unterstützung zur Verarbeitung von Traumata.

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Dreyer sichert türkischen und syrischen Gemeinden Hilfe zu

Mainz (dpa/lrs) – Nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei und Syrien hat die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) den Menschen im Katastrophengebiet Unterstützung zugesichert. Es gebe einen engen Austausch mit den in Rheinland-Pfalz ansässigen türkischen und syrischen Gemeinden, sagte sie am Mittwoch in Mainz. Das vorangegangene Treffen mit Vertretern von türkischen und syrischen Vereinen, Religionsgemeinschaften und Verbänden in der Staatskanzlei sei «sehr emotional» gewesen, sagte sie. Die Landesregierung bemühe sich derzeit, eine Halle in Mainz zu finden, die als Sammelstelle und Drehscheibe für Spenden genutzt werden könne. Das Ausmaß der Katastrophe sei unfassbar, sagte Dreyer. Weiterlesen

Saarland bietet Hilfsgüter für Menschen im Erdbebengebiet

Saarbrücken (dpa/lrs) – Hilfsgüter im Wert von rund 300.000 Euro bietet das Saarland den vom Erdbeben betroffenen Menschen im türkisch-syrischen Grenzgebiet an. Darunter sind unter anderem 500 Feldbetten, über 5000 Schlafsäcke, knapp 6000 verschiedene Decken, 5800 Handtücher und mehr als 300 Transportboxen, wie die saarländische Landesregierung am Mittwoch mitteilte. Das Material stammt demnach aus dem zentralen Katastrophenschutzlager des Landes sowie aus dem Landkreis St. Wendel. Zusätzlich könnte das Land noch zehn Beatmungsgeräte zur Verfügung stellen. Weiterlesen

Erdbebenhilfe für Syrien auf «kritisch niedrigem Niveau»

Istanbul/Damaskus (dpa) – Die Hilfe kommt an, aber es reich längst nicht aus: Neun Tage nach den verheerenden Beben ist der Bedarf nach Hilfsgütern in Syrien riesig. «Trotz der Ankunft von 90 Hilfs-Transportern sinkt die Menge der humanitären Mittel in Lagerhäusern in Syrien auf ein kritisch niedriges Niveau», schrieb Samantha Power, Chefin der US-Behörde für Entwicklungszusammenarbeit und Nothilfe (USAID), am Mittwoch bei Twitter. 350 000 Menschen seien allein in Syrien nach jüngsten Schätzungen vertrieben worden – in einem Land mit ohnehin rund 6,5 Millionen Vertriebenen landesweit.

Nach der Katastrophe mit inzwischen 40 000 bestätigten Todesopfern schwinden die Hoffnungen, noch Überlebende zu finden, immer weiter. Dennoch werden die Such- und Rettungsarbeiten fortgesetzt. In der stark betroffenen Provinz Hatay in der Türkei begannen unterdessen auch Aufräumarbeiten, wie eine Reporterin des Staatssenders TRT berichtete. Dem Sender zufolge wurde zudem eine 45-Jährige am Mittwochmorgen in der Provinz Kahramanmaras lebend gerettet. Sie war demnach 222 Stunden lang verschüttet. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen. Weiterlesen

Das Leid der Kinder in der Erdbebenzone

Von Anne Pollmann, dpa

Kirikhan/Adana (dpa) – Die zehnjährige Saadet Agri starrt ins Nichts. Statt in ihrem Kinderbett in Antakya liegt das Mädchen in einem der 1500 Betten im Stadtkrankenhaus im türkischen Adana. Die Decke ihres Kinderzimmers ist in der Nacht des Erdbebens auf sie und ihren elfjährigen Bruder Mahmut herabgestürzt. Beide Kinder haben die Beine gebrochen.

Saadet ist seitdem verstummt. Keinen Ton habe sie seit der Nacht rausgebracht, sagt ihr Vater Serkan. Dass er nur Mahmut und Saadet, nicht aber die Mutter der Geschwister aus den Trümmern retten konnte, wissen die Kinder noch nicht.

Saadet und Mahmut sind nur zwei von vielen Kinder, die ein Elternteil oder beide in den Trümmern verloren haben. Wenige Wochen alte Babys liegen in Krankenhäusern und niemand weiß, zu wem sie gehören. 1000 Kinder kann das türkische Familienministerium derzeit niemandem zuordnen, rund 790 davon werden noch behandelt.

«Mama, warum ist unser Haus eingestürzt?»

Allein in der Türkei sind laut Unicef 4,6 Millionen der 13,5 Millionen Betroffenen Kinder. In Syrien seien es 2,5 Millionen. «Kinder und Familien brauchen dringend zusätzliche Unterstützung», heißt es von der UN-Organisation. «Mehr sauberes Wasser. Mehr Wärme. Mehr Schutz. Mehr Medikamente. Mehr Finanzierung.»

Die Beben der Stärke 7,7 und 7,6 hatten im türkisch-syrischen Grenzgebiet Anfang vergangener Woche für schwere Zerstörungen gesorgt. Die Zahl der Toten ist mittlerweile auf mehr als 40 000 gestiegen.

«Die Kinder fragen mich: Mama, warum ist unser Haus eingestürzt? Was soll ich antworten, wir wissen es ja selbst nicht», sagt die dreifache Mutter Sevilay Bem. Ihr zweijähriger Sohn klammert sich an ihr Bein. Auf einer freien Fläche umgeben von Ruinen in der Stadt Kirikhan teilen sie sich mit 20 Bekannten einen Ofen und zwei Zelte, die nicht größer als 15 Quadratmeter sind.

Kinder wachen nachts schreiend auf

In einer Ecke des staubigen Zelts liegt ein Mädchen, sie ist frisch operiert. Auch ihr haben die herabstürzenden Betonteile die Beine gebrochen, die nun von einem starren Gestell und durch Schrauben zusammengehalten werden. Zur Versorgung der Wunde gehen sie ins einige Hundert Meter entfernte Zeltlager, sagt Sevilay.

Seit dem Erdbeben wachten die Kinder nachts teilweise schreiend auf, sagt Sevilay. In etwas anderem unterzukommen als in einem Zelt, ist für die Familie derzeit undenkbar. Die Kinder gab es damals noch nicht, aber Sevilay hat schon einmal alles hinter sich lassen müssen. Sie ist vor knapp zehn Jahren vor dem Krieg in Syrien in die Türkei geflüchtet. Wo es für sie dieses Mal hingeht, weiß sie noch nicht.

Die achtjährige Rabia wohnt im Zelt nebenan mit ihrem Vater und ihrer Mutter. «Morgens bringen sie uns Suppe, mittags bringen sie uns Suppe, abends bringen sie uns Suppe», erzählt sie über ihren neuen Alltag. «Und manchmal auch Helva». Anstatt hier rumzusitzen, würde sie eigentlich lieber in die Schule gehen. Ihr Lieblingsfach ist Türkisch.

Vom Erdbeben betroffene Kinder zeigten ganz unterschiedliche Symptome, berichtet ein Psychiater dem Sender TRT. Manche würden unaufhörlich weinen, andere könnten nicht schlafen, verweigerten das Essen und könnten nicht allein gelassen werden. Wieder andere begännen zu halluzinieren und hörten Stimmen. Experten raten dringend zu professioneller Hilfe, wenn Kinder in der Katastrophe ihre Eltern verloren haben. Dass das all den betroffenen Kindern zukommt, scheint unvorstellbar.

Saadet und ihr Bruder Mahmut müssen noch einige Tage im Krankenhaus behandelt werden, hört ihr Vater von den Ärzten. Erst wenn sie gesundheitlich wieder stabiler sind, will er ihnen sagen, dass sie ihre Mutter nicht wiedersehen werden.

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Das tote Dorf: «Erdogan wohnt im Palast, wir sitzen hier»

Von Anne Pollmann, dpa

Ördekdede (dpa) – Dorfbewohner Ismail Mikyaz hat sich sein eigenes Grab gebaut. «Mein Mann hat mir immer gesagt: “Mach dir keine Sorgen, das Haus ist stabil”», sagt seine Frau Zeynep. Doch Ismail wurde in dem Haus erschlagen, das er vor 60 Jahren mit seinen eigenen Händen in dem kleinen Dorf Ördekdede errichtet hat.

Mehr als die Hälfte der Dorfbewohner ist durch das Beben getötet worden. Als die Steine auf das Ehebett des Paares niedergingen, habe er sich verabschiedet: «Meine Frau, lass mich sterben.»

Witwe Zeynep blickt nun auf die Trümmer ihres Hauses. Sie habe ihn nicht retten können. In der Erdbebennacht rollt sich die 83-Jährige aus dem Bett und zieht sich durch eine kleine Öffnung aus den Trümmern, bis sie unter freiem Himmel liegt. Im Regen liegend hört sie zu, wie ihr Dorf schreiend laut in sich zusammenstürzt, während die Erde unter ihr mit einer Stärke von 7,7 bebt.

«Vorher waren wir um die 70 Leute. 36 davon sind tot»

Das Dorf Ördekdede liegt 80 Kilometer von der Großstadt Kahramanmaras entfernt, wo Tausende in den Trümmern von Wohnblöcken starben. «Vorher waren wir um die 70 Leute. 36 davon sind jetzt tot», erzählt der Dorfvorsteher Sezai Tan. 115 von 120 Häuser seien komplett zerstört. «Die fünf übrigen sind so beschädigt, dass man sie nicht betreten darf.»

Kücük Hasan Barik hat das Erdbeben überlebt und blickt von dem Haufen, der sein Haus nun ist, auf das Dorf. «Ich bin fertig mit der Welt.» Die Worte kommen zischend aus seinem Mund. Das Erdbeben schüttelte ihn derart, er fiel auf der Treppe im Haus und schlug sich die Hälfte seiner Zähne aus. Er weiß nicht, wo er hin soll, nirgendwo sei Platz und er hat auch kein Material, um sein Haus zu reparieren. Er dreht sich um die eigene Achse und erklärt, wo überall um ihn herum Menschen gestorben sind. Überall.

«Erdogan wohnt in seinem Palast und wir sitzen hier», sagt Zeyneps Sohn Nusret. Erst am siebten Tag des Bebens habe der staatliche Katastrophenschutz Afad seiner Mutter ein Zelt vorbeigebracht. Staatliche Hilfsorganisationen seien nur zur Stippvisite da gewesen, gemeinsam mit staatlichen Medien. Die verbreiteten «Lügen». Die meiste Hilfe, die ankomme, sei die von Privatleuten, sagt er und zeigt auf frisch gebackene Hackfleischfladen auf dem Gartentisch vor ihm. Ein Mann aus der Gegend verteilt sie gerade im ganzen Dorf. Auch die Leiche des Vaters haben Leute aus dem Dorf aus den Trümmern gezogen. Die Notstruktur, wie sie in Städten entsteht, hat es bis jetzt nicht in das Dorf geschafft.

«Hast du einen Fettstift?»

Wenige Kilometer entfernt, im Dorf Karacay, sitzt die 94-jährige Meyrem Yasim auf einem Plastikstuhl vor einem Afad-Zelt am Rande eines Feldes, blickt auf die umliegenden Berge und wärmt sich im Sonnenlicht. Nachts fallen die Temperaturen hier deutlich unter Null. Das Zelt, dass sie sich mit anderen Frauen teilt, sei beheizt, aber man friere trotzdem, sagt sie und weint. Ob es an etwas fehle? «Nein, wir haben alles.» Später fragen die anderen Frauen dann doch hinter vorgehaltener Hand: «Hast du einen Fettstift?» Ihre Lippen sind von der Kälte aufgesprungen. «Und Unterhosen?»

Es hätte noch schlimmer kommen können in Ördekdede, meint eine Bewohnerin. Denn im Winter gehen die meisten der Bewohner in die Stadt, weil es auf dem Dorf bitter kalt wird und häufig kein Gas zum Heizen da ist. Sie selbst ist Anfang der 90er aus Kuwait nach Syrien geflohen, als der zweite Golfkrieg ausbrach. Als in Syrien der Krieg ausbrach, floh sie aus Aleppo hier ins Dorf. «Ich habe mich dran gewöhnt», sagt sie. Die Tränen in ihren Augen lassen daran zweifeln.

Wie es für Zeynep weitergeht, weiß sie noch nicht. Ihre Kinder leben in Frankreich und Deutschland. Die Türkei und ihr Leben hier verlassen, das wollte sie eigentlich nie. Wenn sie geht, dann nur auf Zeit. Sie will zurück hierher, nach Ördekdede, ihrem Zuhause und zurück zu Ismail, der nun wenige Meter weiter begraben liegt.

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