«Schicksalswahl» in Türkei – Wie stimmen die Deutsch-Türken?

Von Yuriko Wahl-Immel, Arne Bänsch und Serhat Koçak, dpa

Düsseldorf/Berlin/Istanbul (dpa) – Wenn Grundschullehrerin Esra Yavuz in diesen Tagen ihre Stimme für die Parlaments- und Präsidentschaftswahl in der Türkei abgibt, dann in der Hoffnung auf einen Politikwechsel. «Ich wähle für die Menschen, die dort leben und auch für mich – die Türkei ist mein Land», sagt die 41-Jährige aus Berlin. Die Deutsch-Türkin ist eine von rund 1,5 Millionen Wahlberechtigten, die bundesweit ab Donnerstag über Ab- oder Wiederwahl des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan mitentscheiden.

Am Esstisch der Familie Yavuz im Berliner Ortsteil Westend wird lebhaft über die Wahl diskutiert, die als größte Herausforderung der politischen Karriere Erdogans gilt. Nicht erst seit der Erdbebenkatastrophe im Februar muss er um seine Wiederwahl fürchten. «Durch das Erdbeben wurden die Menschen wachgerüttelt und haben am eigenen Leib den Schmerz gespürt und gesehen, wie wichtig ein funktionierender Staat ist», meint Esra Yavuz. Ein Teil ihrer Familie stammt aus der schwer zerstörten Stadt Antakya, in der viele Bewohner über schleppende Hilfe geklagt hatten.

Knapper Ausgang der Wahlen erwartet

Aktuelle Umfragen deuten auf ein knappes Rennen zwischen Erdogan und seinem stärksten Herausforderer Kemal Kilicdaroglu von der größten Oppositionspartei CHP. Umso spannender wird Erdogans Abschneiden unter den Deutsch-Türken. In Nordrhein-Westfalen sieht der türkischstämmige Journalist Hüseyin Topel diesmal eine «greifbare Chance» für die Opposition – und warnt vor Wahlmanipulation. Der Journalist aus Hilden bei Düsseldorf hält einen Rekordwert bei der Wahlbeteiligung hierzulande für gut möglich. «Die Türken in Deutschland fühlen sich durch diese Art der Teilhabe vollwertig und zugehörig. Sie wollen keine Türken zweiter Klasse sein.» Und er mahnt: «Es ist höchste Vorsicht geboten. Besonders die Wahlurnen im Ausland müssen durch Unterstützer der Opposition parteiübergreifend akribisch bewacht werden.»

Nimmt man vergangene Abstimmungen als Beispiel, darf die AKP zumindest bei Wählern in Deutschland auf einen Erfolg hoffen. 2018 kam Erdogan hierzulande auf 64,8 Prozent – und insgesamt nur auf 52,6 Prozent. «Die religiös-konservativen Milieus sind in Deutschland überproportional vertreten und gut organisiert, was ihre Mobilisierung erleichtert», sagt Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkeistudien in Essen. Das habe unter anderem mit der Arbeitsmigration seit den Sechzigerjahren zu tun, die vor allem aus dem ländlich geprägten anatolischen Kernland erfolgt sei – nicht aus Metropolen und Küstenregionen wie Istanbul, Ankara oder Izmir, wo säkulare und oppositionelle Milieus stark sind.

Nimmt der Zuspruch zu Erdogan ab?

In den letzten Jahren wanderten jedoch viele Studierende, Fachkräfte und Oppositionelle ein – und das könne die Zusammensetzung der Wählerschaft zu Gunsten der Opposition verändern. «Dennoch dürfte das am hohen Zuspruch für Präsident Erdogan in Deutschland nur unmerklich etwas ändern», glaubt Yunus Ulusoy. In den Moscheen seien AKP-Wählerschichten überrepräsentiert.

Die Stimme der AKP geben, das kann Esra Yavuz nicht nachvollziehen. «Man sieht das ganze Unglück in der Türkei, lebt aber in einem demokratischen Land. Du hast alles hier, wählst in deinem Land aber eine quasi nicht-demokratische Partei.» Auch ihr Ehemann Cagdas glaubt, dass es diesmal gefährlich werden kann für Erdogan. Aber: Es sei nicht die erste «Schicksalswahl» in der Türkei – und der Ausgang sei für viele Menschen trotz zunächst großer Hoffnungen meist doch eine Enttäuschung gewesen. «Mein Vater hat diese Hoffnung die letzten 50 Jahre gehabt. Ich glaube nicht, dass er noch erleben wird, dass die Türkei sich so entwickelt, wie er es sich immer wünschte.»

Außerhalb der Türkei hat Deutschland die weltweit größte türkische Community vorzuweisen – mit rund drei Millionen Menschen. Unter den Bundesländern leben die meisten Türkischstämmigen in NRW, wo nun gut 500.000 Menschen wahlberechtigt sind. Wahlkampfauftritte ausländischer Politiker sind drei Monate vor den Abstimmungen hierzulande nicht erlaubt. Für Privaträume gilt aber etwas anderes. «Ein größeres Augenmerk sollte man auf die kleineren Sozialräume im Umfeld der Moscheegemeinden werfen, da sich die Personen für Wahlpropaganda häufig im Privaten treffen», rät Topel. In diesem Kontext tauchten auch immer wieder Politiker aus der Türkei auf.

Stimmung machen auf Social Media

Die Ditib in Köln als größter Islamverband könne zwar versuchen, zu Gunsten von Erdogan und AKP «propagandistisch» Einfluss zu nehmen, eine allzu große Rolle werde das aber wohl nicht spielen, glaubt Topel. Hingegen werde via Facebook, Instagram, TikTok und Twitter viel Stimmung für die AKP gemacht. Und in Deutschland werde viel lineares türkisches TV gesehen. Ein Großteil der Medien in der Türkei stehe unter direkter oder indirekter Kontrolle der Regierung.

Der Türkische Bund in NRW rechnet ebenfalls mit einer sehr hohen Wahlbeteiligung hierzulande. Angesichts medialer «Überfrachtung» und damit einhergehender Polarisierung sei es eine «Gewissensfrage», wählen zu gehen und möglichst noch viele Menschen für das eigene Lager zu mobilisieren, beobachtet der Vorsitzende Serhat Ulusoy.

Unternehmer Mehmet D. vom Niederrhein hätte wegen der Erdbeben eine Verschiebung der Wahlen besser gefunden. Erdogan habe versprochen, die zerstörten Häuser binnen eines Jahres wieder aufzubauen – man hätte mit dem Votum warten sollen, um zu prüfen, ob das Versprechen umgesetzt wird, findet er. Im türkischen Fernsehen würden immer wieder Fortschritte beim Wiederaufbau gezeigt, den Opfern werde nach anfänglichen Problemen sehr geholfen. Das werde auch von der türkischen Community in Deutschland wahrgenommen. «Damit ergattert sich Erdogan natürlich Pluspunkte.»

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