Wie Putin die Russen in seinen Krieg zwingt

Russische Bevölkerung
Von Ulf Mauder und André Ballin, dpa

Moskau (dpa) – Unter dem Druck vieler Misserfolge erhöht Russlands Präsident Wladimir Putin nach fast sieben Monaten Blutvergießen in der Ukraine seinen Einsatz. Am Mittwochmorgen ordnete der Kremlchef in einer schon am Vorabend erwarteten Fernsehansprache die seit langem von vielen Russen befürchtete Mobilmachung für den Kampf in der Ukraine an. Eine «Teilmobilmachung», wie er betonte.

Der 69-Jährige begründete den für die Atommacht beispiellosen Schritt damit, dass es längst nicht mehr nur um die Ukraine gehe, sondern um den Kampf gegen den Westen und die Nato. «Das Ziel des Westens ist es, unser Land zu schwächen, zu spalten und letztlich zu zerstören», behauptete Putin. Beweise für diese Behauptungen gibt er nicht.

300.000 Reservisten sollen aufs Schlachtfeld

Aber Putin spricht seit langem von einem «Krieg» der EU und der USA gegen Russland. Und er attestierte dem Westen einmal mehr «Hass» gegen alles Russische. Wie schon beim Zerfall der Sowjetunion vor gut 30 Jahren sei das Ziel, «dass Russland selbst in eine Vielzahl von Regionen und Gebieten zerfällt, die tödlich miteinander verfeindet sind».

Während der Westen das zurückweist und Putin «Verzweiflung», «Panik» und «Schwäche» vorwirft – auch angesichts fehlender Kampferfolge in der Ukraine – soll sein kurz nach ihm auch im Staatsfernsehen gezeigter Verteidigungsminister Sergej Schoigu nun 300.000 Reservisten mobilisieren. Und Putin und Schoigu drohen einmal mehr damit, im Ernstfall, sollte das Land angegriffen werden, auch vor dem Einsatz von Atomwaffen nicht zurückzuschrecken.

Wohl auch mit Blick darauf, dass viele im Westen und in der Ukraine die russische Gefahr bisweilen weglächeln oder nicht ernstnehmen, sagte Putin in seiner Rede sicherheitshalber an einer Stelle: «Das ist kein Bluff». Vor allem aber wird es für die ohnehin schon durch eine massive staatliche Bevormundung und scharfe Gesetze eingeschüchterten Russen nun ernst.

Harte Strafen gegen Proteste

Während zuletzt nach russischen Umfragen viele Russen die «Ereignisse in der Ukraine», wie sie oft unverfänglich genannt werden, lieber ausblendeten oder vergaßen, katapultiert die Teilmobilmachung den Krieg nun zurück ins Bewusstsein vieler Familien. Frauen befürchten, dass ihre Männer und Söhne nun aufs Schlachtfeld ziehen müssen. Echte Proteste sind kaum zu erwarten, weil sie hart bestraft werden – und Putin immerhin zur Verteidigung des Vaterlands vor dem Westen ruft.

Der inhaftierte Kremlgegner Alexej Nawalny warf Putin vor, unbeteiligte russische Bürger in den Krieg zu schicken – und die Millionenarmee und andere Sicherheitsstrukturen zu verschonen. Gekämpft wurde bisher, das betonte Putin erst am Freitag, nur mit Freiwilligen, Soldaten auf Vertragsbasis. Da es aber massive Personalprobleme gibt an der Front und die verdeckte Mobilmachung in den Regionen, wo Straßenwerbung Freiwillige anlocken soll, nicht zieht, muss Putin nun zu einem Zwangsmittel greifen.

Zwar stellt sich die Frage, ob die Regionen und die Wehrkreiskommandostellen tatsächlich die Ressourcen haben, die Teilmobilmachung umzusetzen. Aber der Druck auf die Menschen ist enorm. Schon am Vortag hat die Staatsduma in Blitzverfahren die Strafen für Fahnenflüchtige und alle, die sich dem Militärdienst entziehen – etwa durch den freiwilligen Gang in Kriegsgefangenschaft – deutlich verschärft. Und Putin forderte das Justizministerium auf, es möge eine Aufstellung der Haftplätze abgeben.

Kommt das Kriegsrecht?

Das alles schürte Ängste unter vielen einfachen Russen, Putin könne auch noch das Kriegsrecht verhängen – erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg. So weit ist es jetzt noch nicht. Aber eingebrannt hat sich ein Satz Putins vom Juli zum Vorgehen in der Ukraine: «Wir haben noch nichts ernsthaft begonnen.» Putin wies am Dienstag auch die Rüstungsindustrie an, die Waffenproduktion hochzufahren. Selbst Rentner werden mobilisiert für den Mehrschichtbetrieb. Und Verteidigungsminister Schoigu meinte auch, dass es 25 Millionen Reservisten gebe – bei einer auch möglichen Generalmobilmachung.

Klar ist, dass Putin den Einsatz nun deutlich erhöht. An diesem Freitag laufen Scheinreferenden in den besetzten Gebieten der Ukraine an, die eine Annexion weiterer Gebiete vorbereiten sollen. Betroffen sind die Regionen Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja. Schon 2014 holte sich Russland so die Schwarzmeer-Halbinsel Krim. Die durch die Teilmobilmachung gesammelten Kräfte sollen helfen, die besetzten Gebiete vor einer Rückeroberung durch die Ukraine zu sichern.

Beides – die geplante Annexionswelle und die Mobilmachung – gilt als Reaktion auf einen Krieg, der aus Moskauer Sicht nach dem Start Ende Februar binnen weniger Tage seine Ziele hätte erreichen sollen. Der Krieg gehe weiter bis zum Erreichen aller Ziele, hieß es auch am Mittwoch wieder in Moskau.

Sorge um Eskalation – auch mit Atomwaffen

Aber auch angesichts schwerer wirtschaftlicher Probleme durch die Sanktionen des Westens glauben viele in Russland längst nicht mehr an den ganz großen Sieg. Der russische Politologe Abbas Galljamow meinte sogar, dass Putin nicht einmal versuche, auf dem Schlachtfeld Erfolge zu erringen – und selbst nicht an einen Sieg glaube. «Er braucht die Mobilisierung, um die Ukraine an den Verhandlungstisch zu zwingen», sagte der Experte. Dafür zeige Putin die Bereitschaft zur Eskalation bis hin zum Einsatz von Atomwaffen.

Russland beklagte mehrfach, dass die Ukraine nur noch auf schwere Waffen des Westens setze, nicht mehr zu Verhandlungen bereit sei und den Kampf auf dem Schlachtfeld entscheiden wolle. «Putin erhöht in jeder schwierigen Situation den Einsatz. Er erwartet, dass sich der Gegner vernünftiger verhält als er selbst und dann nachgibt, um einem Zusammenstoß aus dem Weg zu gehen», analysiert Galljamow. Er sieht darin ein Muster Putins zu bluffen.

Russlands Ultrarechte jubeln

Wie stark Putin ist, darüber wird weiter gestritten. Aber Russlands ultrarechte Kreise und Militärblogger bejubelten die Teilmobilmachung. In der Szene, die zu den größten Befürwortern des Einmarschs in der Ukraine zählt, hatte sich zuletzt Unmut über die eigene militärische Führung breitgemacht. Die Niederlage im Gebiet Charkiw führten viele darauf zurück, dass Russland nur mit «halber Kraft» kämpfe. Es gab sogar Forderungen nach einem Rücktritt von Verteidigungsminister Schoigu, einem engen Vertrauten Putins.

Mit der Einberufung der Reservisten hat sich Putin nun vorerst wieder Luft verschafft und die Unterstützung der Nationalisten, auf die sich der Kremlchef in seiner Politik immer wieder stützt, gesichert. Die Entscheidungen seien «fast alle so, wie ich es mir gewünscht habe», lobte der im Donbass agierende Feldkommandeur Alexander Chodakowski. Allerdings ist Putin weiter unter Erfolgsdruck. Bringt die Mobilisierung für Putin keine Erfolge, droht nicht nur neue Kritik, sondern eine Niederlage an der Front insgesamt.

 

 

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