Lewentz: Verfassungsschutz als Frühwarnsystem nötiger denn je

Innenminister Roger Lewentz

Die sicherheitspolitischen Herausforderungen durch Extremismus und staatlich gelenkte Akteure sind laut Innenminister Roger Lewentz 2021 deutlich gestiegen. Er stellte bei der Vorstellung des rheinland-pfälzischen Verfassungsschutzberichts 2021 diese hochdynamischen Entwicklungen in den Vordergrund.

„Rasant verlaufende Radikalisierungsprozesse bis hin zum Terrorismus, eine stetig zunehmende Verlagerung des gesamten extremistischen Spektrums ins Internet, Entgrenzungstendenzen zwischen Extremismus und demokratischer Mitte bei Corona-Protesten, Anfeindungen gegen Politikerinnen und Politiker und eine steigende Zahl von Cyberangriffen gegen sensible Einrichtungen fordern den Verfassungsschutz in seiner Rolle als „Frühwarnsystem“ der Demokratie mehr denn je“, betonte Lewentz. Extremisten und angesichts des Krieges in der Ukraine nicht zuletzt fremde Nachrichtendienste und ihre Helfer hätten ihre Bemühungen intensiviert, die Verfassungsordnung zu unterminieren, das politische System zu destabilisieren und die Bevölkerung zu verunsichern.

„Hinzu kommt eine immer stärkere Tendenz, Verschwörungstheorien und ‚Fake News‘ mit dem Ziel zu verbreiten, Zweifel und Zwietracht in der Gesellschaft zu säen. Das alles ergibt eine hochbrisante Mischung. Der Verfassungsschutz muss da äußerst wachsam bleiben“, so Lewentz.

Dabei erschüttere aktuell vor allem der von Russland im Februar dieses Jahres gegen die Ukraine begonnene Angriffskrieg die Sicherheitsarchitektur und das Sicherheitsempfinden in der Bevölkerung zutiefst. „Im Windschatten zunächst der Corona-Pandemie und nun des Krieges in der Ukraine hat die Bedrohung durch staatlich gelenkte Cyberangriffe und Desinformationskampagnen erheblich zugenommen“, fasste Elmar May, Leiter der Abteilung Verfassungsschutz, zusammen. Hybride Angriffe, die Kombination aus klassischen Militäreinsätzen, wirtschaftlichem Druck, Cyberattacken auf sensible Infrastrukturen bis hin zu Propaganda und der Verbreitung von Desinformation in den Medien und sozialen Netzwerken, gefährdeten die Stabilität und Integrität ganzer Staaten und Gesellschaften.

Im Einzelnen:

„Sorgen bereitet uns der in Teilen der Gesellschaft verstärkt aufkeimende Antisemitismus. Das hat sich 2021 unter anderem bei Corona-Protesten und bei Demonstrationen im Zuge des erneut aufgeflammten Israel-Palästina-Konflikts gezeigt. In Rheinland-Pfalz wurden 2021 61 antisemitische Straftaten gezählt“, so Lewentz. 2020 waren es noch 46. In 2021 wiesen allein 50 Straftaten einen rechtsextremistischen Hintergrund auf. Erst vor wenigen Wochen war es wieder zu judenfeindlichen Sprechchören auf pro-palästinensischen Demonstrationen gekommen. „Es ist deshalb richtig, dass auch der Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz mit seiner 2021 eingerichteten Dokumentations- und Koordinierungsstelle den Antisemitismus noch stärker in den Blick nimmt und Erkenntnisse bündelt und analysiert“, so Lewentz.

„Der Rechtsextremismus bleibt eine der zentralen Herausforderungen für Staat und Gesellschaft“, hob der Minister hervor. In Rheinland-Pfalz werden dem rechtsextremistischen Personenpotenzial rund 740 Personen zugerechnet (2020: 730), darunter konstant ca. 150 Gewaltorientierte. 2021 wurden auf anhaltend hohem Niveau 754 rechtsextremistisch motivierte Straftaten gezählt (2020: 759), darunter 37 Gewalttaten (2020: 54).

Die Gefahr der Bildung neuer rechtsterroristischer Vereinigungen und sonstiger aggressiv-militanter Gruppen sowie der Radikalisierung von Einzelpersonen halte unvermindert an. „Ein zunehmendes Problem bei Radikalisierungsprozessen sind überregionale, gewaltbereite Mischszenen, die weit verstreut sind. Immer stärker in den Fokus rückt die Verlagerung des Rechtsextremismus ins Virtuelle. Es hat sich regelrecht eine ‚digitale Parallelwelt‘ entwickelt, in der sich Hass und Hetze, Verschwörungstheorien und Falschmeldungen entfalten und verbreiten. Fortgesetzt haben Rechtsextremisten ihre Bestrebungen, Anschluss an die Mitte der Gesellschaft zu gewinnen, um ihr Gedankengut dorthin zu tragen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu unterwandern. Sie nutzen dabei Krisen wie die Corona-Pandemie aus und versuchen, sie für ihre verfassungsfeindlichen Zwecke zu instrumentalisieren, was ihnen bisher jedoch nicht gelungen ist“, sagte Lewentz. Der wehrhafte Staat halte weiter entschieden dagegen. Die bundesweiten Razzien gegen Neonazis Anfang April dieses Jahres seien ein weiterer Beleg dafür, wie konsequent die Sicherheitsbehörden bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus vorgingen und dass es keine Toleranz für solche Gruppierungen und Personen gebe.

Zu einem neuen Arbeitsschwerpunkt des Verfassungsschutzes hat sich 2021 der im Zusammenhang mit den Corona-Protesten entstandene Phänomenbereich ‚Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates‘ entwickelt, dem in Rheinland-Pfalz bislang ein Personenpotenzial im unteren zweistelligen Bereich zugerechnet wird. Akteurinnen und Akteure, die diesem Spektrum zugerechnet werden und sich häufig im Zuge der Corona-Proteste radikalisiert haben, verbindet insbesondere das Verächtlichmachen staatlicher Entscheidungen und des demokratischen Systems, Umsturzfantasien sowie ein betont aggressives Auftreten gegenüber politischen Gegnern, Andersdenkenden und den Medien. Verschwörungsmythen, Falschinformationen und antisemitische Narrative sind in diesen Kreisen weit verbreitet und werden dazu genutzt, die Bevölkerung zu verunsichern. „Ich sehe hierin abseits der bekannten Ideologien und Weltanschauungen ein Gefahrenpotenzial für unsere Demokratie und den gesellschaftlichen Frieden, das wir sehr ernst nehmen müssen“, warnte Lewentz.

Nicht zuletzt aufgrund intensiver Maßnahmen zur Erhellung des Dunkelfeldes ist für 2021 ein Anstieg der Zahlen im Spektrum der ‚Reichsbürger‘ und ‚Selbstverwalter‘ zu verzeichnen. In Rheinland-Pfalz rechnet ihnen der Verfassungsschutz ca. 850 Personen zu (2020: ca. 700), darunter konstant rund 100 Gewaltorientierte und ca. 250 organisationsgebundene Personen (2020: ca. 110). Während Reichsbürger bisher in der Öffentlichkeit in größerer Zahl kaum in Erscheinung traten, beteiligten sie sich 2021 vermehrt an öffentlichen Protesten, die sich gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie richteten. Aus der Corona-Protestszene und Aktivisten der Reichsbürgerbewegung rekrutierte sich auch ein Teil der ‚Vereinten Patrioten‘, die im Zusammenhang mit der Vorbereitung von Sprengstoffanschlägen und der Entführung des Bundesgesundheitsministers größere Bekanntheit erlangte.

„Innerhalb der Szene von Staatsverweigerern und Rechtsleugnern gibt es ein großes Aggressionspotenzial und eine ausgeprägte Waffenaffinität“, so Lewentz. Die erfolgreichen Maßnahmen zum Entzug waffenrechtlicher Erlaubnisse und dem Entzug ihrer Waffen würden fortgeführt, bis keine Waffe mehr in der Hand der Extremisten sei.

Eine anhaltend hohe Bedrohung für die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland und die Innere Sicherheit bleiben der Islamismus und der islamistische Terrorismus. In Rheinland-Pfalz zählt der Verfassungsschutz rund 660 Islamisten (2020: ca. 650), darunter konstant ca. 420 organisationsgebundene Islamisten, etwa 240 Salafisten (2020: ca. 230) und konstant rund 65 Gewaltorientierte. 2021 wurden im Bereich der Politisch motivierten Kriminalität – religiöse Ideologie – 14 Straftaten (2020: 13), darunter vier Gewalttaten verzeichnet (2020: eine).

Die Anschlagsgefahr durch islamistischen Terrorismus in Europa bleibt trotz rückläufiger Zahlen akut, wie die hohe Zahl von Ermittlungsverfahren mit Terrorismusbezug und vereitelte Anschläge verdeutlichen. Ein latentes Sicherheitsrisiko geht dabei nicht nur von ideologisch gefestigten Mitgliedern aus dem militanten Kern der Szene aus, sondern ebenfalls von psychisch labilen Einzelpersonen, die aus irrationalen Motiven heraus Anschläge nach jihadistischem Vorbild begehen könnten.

Auch den Linksextremismus und den Extremismus mit Auslandsbezug behält der Verfassungsschutz im Blick. Das linksextremistische Personenpotenzial blieb 2021 mit rund 520 konstant, darunter gleichbleibend etwa 120 Gewaltorientierte. Im Bereich der Politisch motivierten Kriminalität – links – sank die Zahl der registrierten Straftaten auf 140 (2020: 196). Die Zahl der in den Straftaten enthaltenen Gewalttaten sank 2021 auf vier Delikte (2020: 21). Linksextremistische Gewalt bewegt sich in Rheinland-Pfalz im Bundesvergleich weiterhin auf vergleichsweise niedrigem Niveau. Individuelle Radikalisierungsprozesse sind aber auch hier nicht auszuschließen.

Unter den extremistischen Organisationen mit Auslandsbezug, denen insgesamt 650 Personen zugerechnet werden (2020: ca. 600), bleibt die ‚Arbeiterpartei Kurdistans‘ (PKK) mit rund 450 Personen dominierende Kraft. Hinzu kommen rund 150 Angehörige türkisch-nationalistischer Organisationen (2020: ca. 100) und etwa 50 Angehörige türkisch-linksextremistischer Gruppierungen. Im Bereich der politisch motivierten Kriminalität – ausländische Ideologie – sank die Zahl der Straftaten 2021 auf 16 Delikte (2020: 28). Die Zahl der in den Straftaten enthaltenen Gewalttaten sank 2021 auf zwei Delikte (2020: vier).

Strukturdaten Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz

Der vom Landtag Rheinland-Pfalz beschlossene Haushaltsplan weist für 2021 im rheinland-pfälzischen Verfassungsschutz insgesamt 204 Stellen aus. Das sind sechs mehr als 2020. Für 2022 sind im Etat 205 Stellen eingeplant. Deren Zahl ist in den zurückliegenden Jahren kontinuierlich gewachsen. In der Entwicklung spiegeln sich die zunehmenden und immer komplexeren extremistischen und sicherheitsgefährdenden Bedrohungen wider.

Das Budget für Sachausgaben (ohne Personalkosten) betrug im Haushaltsjahr 2021 rund 2,1 Millionen Euro und etwa 1,5 Millionen Euro für Investitionen.

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